Vergraben & Vergessen.
#1
Mortimer
1347 - 1400



Die einzelnen Lettern und Zahlen auf dem Grabstein waren schief und unsauber, der Abstand untereinander variierte von einem halben bis zu zwei Fingern. Über ein Jahr war es mittlerweile her, dass Mortimer, der Totengräber, Lew unter seine Fittiche genommen hatte. Die Arbeit mit dem Meißel hatte er ihm nie beigebracht und doch schämte sich der ehemalige Gehilfe über diese schlampige Beschriftung. Andererseits, wäre es nach dem Verstorbenen gegangen, hätte er nicht einmal die Erlaubnis erhalten einen der Grabsteine für diesen Zweck zu verschwenden, waren diese doch teure Anschaffungen und nur an entsprechend zahlungskräftige Angehörige zu verkaufen.

Vampire, Höllenhunde, Untote .. all diese Fabelwesen hätten einem unbedarften Friedhofsbesucher vermutlich nicht annähernd so einen Schreck eingejagt wie Mortimer es zu Lebzeiten getan hatte. Das vernarbte, enstellte Gesicht in Verbindung mit dem humpelnden Gang und der rauen, unfreundlichen Stimme brachte ihm einen gewissen Ruf ein und er wurde gemieden - mit einer Ausnahme. Lew war damals verzweifelt, deprimiert und arbeitslos gewesen; nach einem Treffen mit dem Totengräber hatte sich zumindest einer dieser Zustände geändert und es war ein unbeschreiblich gutes Gefühl, zur Abwechslung nicht nur das eigene Grab zu schaufeln.

Gegen Ende war der alte Mann ihm gegenüber tatsächlich auch aufgetaut und die Erzählung von verstorbener Liebe verlieh ihm eine Menschlichkeit, die man nur am Abgrund des Todes finden konnte. Umso größer war der Schock, als eben jener Mann eines Morgens in einem der Gräber lag, das Lew erst am Vortag für einen verunglückten Bauern ausgehoben hatte. Ein Sturz muss es gewesen sein, bedingt durch das ewig angeschlagene Bein, und im Anschluss hatte der Regen dazu geführt, dass er in diesem, seinem, Grab, einem qualvollen Tod durch Ertrinken zum Opfer gefallen war.

Der Gehilfe, oder was auch immer er jetzt war, nahm dem Leichnam noch den aufgeweichten Münzbeutel und die Kleidung ab, bevor er sich an die Bestattung machte. Es war die Standard-Prozedur und sah man einmal von dem Grabstein ab, war auch für den Totengräber keine Ausnahme zu machen. Er war tot. Er war vergraben. Und bald würde er vergessen sein.


[Bild: Grab.png]
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#2
Rainbow 
Béla Ander
1372 - 1400



Das laute Klopfen riss Cleo aus dem Schlaf und damit aus einem Traum, der sie inmitten einer sonnenbeschienen Blumenwiese lustwandeln ließ und noch während sie den Erinnerungen an das weiße, schlichte Kleid aus leichtem Stoff nachhing, in dem sich der warme Wind gefangen hatte, der über die sanften Hügel ihrer Traumwelt strich, (...) wurde ihr die Decke vom Körper gezogen. Das Klopfen war nachdrücklicher geworden und Lew verließ den Raum. "Schlagt doch gleich die Tür ein!"

Als sie endlich selbst an die Türschwelle trat, hatte er den Schubkarren schon aus dem Verschlag geholt und sie wunderte sich sehr über das Geschehen, das sich in aller Herrgottsfrüh ihrem verschlafenen Blick bot. Ein paar Männer standen nach Art der Waschweiber im Kreis und schwatzen durcheinander und weil Cloes Vorstellungskraft dazu tendierte fehlende Details zu ergänzen, versammelten sie sich um einen dampfenden Waschzuber und rührten kräftig mit Holzpaddeln um. "Soll ich ein Waschbrett holen?" Sie richtet die Frage an Lew, der sie geflissentlich überging und sie mit sich winkte und auch die Männer wandten sich zum Gehen und so bildeten sie bald eine kleine Prozession mit einem Leichenkarren an seiner Spitze. Sie folgten dem Straßenverlauf bis zu einer Abzweigung und bogen nach Osten in einem schmalen Weg ab.

Der morgendliche Wind hatte die Flügel der Mühle in ihre gleichmäßige Drehung versetzt und ihr Knarren erinnerte sie an den Treppenaufgang des Hauses, das sie seit gestern bewohnte. Sie wollte gerade die schmale Leiter betreten und die wenigen Sprossen erklimmen, die zum Eingang der Mühle führten, als Lews Kopf in der Luke erschien und sie mit einer ausladenden Handgeste verscheuchte. "Am Wegrand habe ich ein paar Blumen gesehen, wir werden sie brauchen."

"Also doch so schlimm", dachte sie bei sich und konnte sich der Neugierde nicht erwehren, die sie angesichts des Verbots überkam und als sie einen kurzen Blick ins Innere der Mühle riskierte, sah sie, wie die Männer einen fetten Burschen aus dem Seil befreiten, das ihn stranguliert hatte. Es war ein Unfall gewesen. Der Gehilfe des Müllers hatte sich beim Versuch den Flaschenzug zu reparieren erdrosselt. Die Vorrichtung hatte seinem Gewicht standgehalten und nun hing er mit blauem Kopf und herausquellender Zunge einige Meter über dem Boden zwischen den todbringenden Seilen.

Bis man ihn dann auf den Karren verladen und mit einem weißen Leinentuch zugedeckte hatte war sie Blumenpflücken gegangen und bekam den aufgedunsenen Körper des Müllergehilfen erst wieder auf dem Tisch im unteren Stock des Hauses zu Gesicht. Lew zeigte ihr die Stelle, an der das Genick abgerissen war und sie beschloss bei der Leiche zu bleiben, bis er das Grab ausgehoben hatte. Sie wusch sein Haar und steichelte beruhigend über seine Stirn. Dann lernte sie noch das Register zu führen und wie die Informationen für die Sterbeurkunde an die hiesige Stadtverwaltung zu richten waren. Das war es also, das Handwerk des Todes.


[Bild: bn7b.png]
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