FSK-18 Die vielen Freunde des einsamen Galatiers
#1
Die Vögel von Servano

Der Morgentau begann langsam der einsetzenden Sonne des heraufgezogenen Tages zu weichen und bereits frühzeitig hatten die gefiederten Waldbewohner begonnen, die Unbeschwertheit des ersten Heuert anzukündigen. Aus ihren kleinen Leibern sangen sie einander um die Wette und begannen dabei, den Wald in eine Atmosphäre von Frieden und Entspannung zu tauchen.

Hier und dort sah man ein Wildschwein oder einen stolzen Hirsch, wie sie im Unterholz nach Nahrung suchten, ohne Eile und ohne die Hast, die durch Jäger und andere Raubtiere noch früh genug heraufziehen würde. Für die ersten Morgenstunden ließ der Wald vergessen, dass dass dieser Ort ebenso ein Quell des nackten Überlebenskampfes sein konnte. Nicht heute. Die frische Luft, die wundervollen Lieder von Spatz und Rotkehlchen und die durch die dichte Laubdecke dringenden Lichtstrahlen vertrieben all' diese schlimmen Gedanken – und sorgten auch dafür, dass der einsame Wanderer, der durch den dichten Wald wandelte, beinahe beschwingt auszusehen. Ein fröhliches, friedfertiges Liedlein auf seinen Lippen, zarte Töne aus Kindertagen einer fernen Heimat womöglich, begleiteten jeden seiner Schritte tiefer in das Labyrinth aus Laub und Gehölz. Ein Vogelnest in einer Astgabel erweckte seine Aufmerksamkeit und der Anblick der jungen, bald flügge werdenden Schaar in dem Holzgebinde ihrer Eltern zeichneten ein zartes, mitfühlendes Lächeln auf seine Züge.

Als er sich schließlich näherte, landete Mutter Vogel unter heftigem Getöse am Rand des Nestes und begann ihr Missfallen auszudrücken. Das Konzert ihrer Artgenossen litt unterdessen nicht darunter und der Mann begann zu beschwichtigen:“Keine Sorge, Frau Mutter, ich möchte Euren Kindern kein Leid zufügen...“ Und als verstehe dieses instinkgesteuerte und dennoch zweifelsohne tapfere Tier seine Worte, verstummte Mutter Vogel und begann ihn nun neugierig zu beäugen. Ihre Aufmerksamkeit ganz auf den riesenhaften aber offensichtlich an ihren Kindern völlig uninteressierten Menschen gerichtet, bemerkte sie nicht, wie sich die Hand des Mannes blitzschnell um sie schloss. Unverletzt, aber voll der Angst, nun von ihrem Gelege getrennt zu werden, begann Mutter Vogel wieder lauthals Beschwerde zu führen und in der aus Fleisch und Fingern geformten Höhle wild mit dem Flügeln zu schlagen. Der fröhliche Wanderer hatte den ganzen Morgen damit zugebracht, seit die Melodien begonnen hatten, herauszufinden, wie man einen Vogel am besten fangen konnte und mittlerweile, das schien er sich selbst zuzugestehen, war er recht geübt.

Säuselnd raunt der Mann dem irritierten Tierlein zu, dass es sich nicht um seine Brut sorgen muss und niemand hier und heute sein Leben lassen muss, nein, nein. Ein derartiges Schicksal, so befand der Wanderer, würde auch nicht zu der Unbeschwertheit dieses Morgens passen. Ein Liedlein sollte auch dem Tier wieder seine Unbeschwertheit zurückbringen, wie der Wanderer fand und so erklang das Kinderlied von einst erneut. Ruhige, sanfte Töne, davon kündend, dass die Eltern stets wachen würden und niemals ihr eigen Fleisch und Blut einer Gefahr aussetzen würden. Wie einem eigenen Kind sang der Wanderer der erregten Mutter Vogel das Liedlein, welches ihm in Kindertagen stets Angst und Furcht zu nehmen wusste.

Und tatsächlich fand das Federtier die erhoffte Ruhe und begann das Flügelschlagen auszusetzen und – den Wanderer, das Tier noch immer im Griff seiner Hand haltend, wieder neugierig zu beäugen. Was würde nun passieren? Zunächst einmal ließ der fröhliche Mann seinen Gesang im Wald verhallen und begann nun zwischen Zeige- und Mittelfinger einen kleinen Spalt zu öffnen, der es dem Vogel ermöglichte, einen Flügel herauszustecken. Im Bestreben, seine Freiheit wiederzuerlangen, tat er dies auch schließlich, was dazu führte dass der Mann dem überraschten Tier den Flügel brach. Ohne dies weiter zu kommentieren und auf den Protest von Mutter Vogel zu hören, wand er das überraschte Tier in seiner Hand brach ihm auch den zweiten Flügel in einem schnellen Handstreich.

Anschließend setzte er das flugunfähig gewordene Vöglein in ein einen aufgeschlagenen Beutel, den er obenrum verschloss und sich nun, im Bestreben dem Gesang ihrer Artgenossen weiter zuzuhören, an einem Baumstamm niederließ und erneut abzuwarten begann, bis Fräulein sich beruhigt haben würde. Unglücklicherweise verendete das Tier schließlich an dem ausgelösten Stress und musste schliesslich vom Wanderer aus dem Beutel tot geborgen werden. Mit einem seufzten katapultierte er den toten Vogel in den nächsten Strauch und erhob sich. Das Problem mit Kleintieren war, wie er befand, ihre mangelnde Stressresistenz. Das gab es Tiere mit einer weitaus höheren Schmerztoleranz, aber auch in weitaus kleinerer Zahl und dazu noch schwerer zu finden.

Mit einem Liedlein auf den Lippen erhob sich der fröhliche Mann erneut, keinem seiner Gedanken gestattend, die wundervolle Bühne, auf der er heute spielte, zu ruinieren. Der Morgen und auch der frühe Mittag vergingen – und zweifelsohne eine nicht näher zu beziffernde Zahl an Vögeln, Mäusen, Hühnern und Eichhörnchen. Aber schlussendlich hatte der Wanderer es vermocht, einem Tier – erneut einer tapferen Mutter Vogel, sowohl die Schwingen als auch die Beinchen zu brechen, ohne dass sie daran starb.

Tatsächlich blickte sie ihn nun neugierig aus seinem Beutel an, wenn er in diesen hineinblickte, als hätte sie begriffen, dass sie bald über sich hinauswachsen werden würde. Tatsächlich hatte der Wanderer das Gefühl gehabt, stille Zustimmung vom Federvieh geerntet zu haben, als er ihr dieses versprochen hatte.

In seinem Herbergszimmer legte er das Tier in einer kleinen Kiste ab, die genügend Luft zum Atmen durch die Ritzen hereinließ. Ein paar Brotkrumen zum Aufpicken sicherten ihm die fortgesetzte Mitarbeit seines Gastes. Nun galt es nur noch, die richtigen Menschen für sein Szenario aufzutreiben.

Aber das würde das kleinere Problem sein. Zärtlich strich der Wanderer über den Kopf des Vogels, der mit den Brotkrumen viel zu beschäftigt war, als dass er eine Reaktion darauf hätte geben können – oder wollen. Der Vogel lebte von einem auf den anderen Moment, vollkommen egal ob der Zeitpunkt seines Ablebens bereits bekannt war, oder nicht. Für den Moment hatten die Reste des Backwerks es geschafft beide – Tier und Mensch für einen Augenblick vergessen zu lassen, dass es außer den Geschehnissen in dieser kleinen Kiste noch eine andere Welt gab.

Der fröhliche Mann schmunzelte später am Abend über diesen absurden Umstand.
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#2
Das Provisorium

Er hatte nicht lange suchen müssen bis er einen Ort, genauer eine Brücke, gefunden hatte, die ihm als Nachtlager dienen sollte. Alle wertvolle Habe in seinem Wertfach zu deponieren und sich zur Nacht zu holen, was er bis zum nächsten Morgen brauchen würde, war vielleicht nicht die eleganteste Lösung, aber sie war praktikabel. Keine Fragen, keine Kosten, kein Aufsehen. Jeden Tag den Schlafplatz zu wechseln, half dabei überhaupt erst keine Fragen aufkommen zu lassen. Irgendwann würde er jemanden oder etwas gefunden haben, der ihm mit einer bleibenden Unterkunft zu Diensten sein konnte. Und irgendwann würde das auch notwendig werden.

Aber für den Moment reichte sein Provisorium vollkommen aus. Er hatte es sich bereits, man könnte sagen, häuslich gemacht, als seine Gefolgschaft eintraf. Natürlich nannte er sie nicht offen so. Der Galatier konnte jedoch nicht ohne Stolz behaupten, bereits eine kleine Zahl an Männern um sich geschart zu haben, die für ihn Dinge erledigen konnten. Sie konnten Augen und Ohren sein und sie waren in der Lage Kontakte zu knüpfen, wo er im Verborgenen bleiben wollte.

In einem Halbkreis umringten sie die kleine Laterne, die unter dem Brückenbogen einen Schein aus Schummerlicht erzeugte. Der Galatier blickte jeden Teilnehmer einen nach dem anderen an. Er fragte nach Neuigkeiten, nach Fortschritt und nach Möglichkeiten, die sich boten. Jeder dieser Männer hatte seine eigene Aufgabe und ihr Meister, wie sie ihn nannten, führte die Fäden zusammen. In der Tat gab es einige Dinge zu berichten. Die Hauptstadt Servanos war ein pulsierender Quell an Gelegenheiten, die man offensichtlich einfach ernten musste. Natürlich mit gebotener Vorsicht, denn zwischen jeder Frucht konnte eine giftige Spinne lauern, in jedem Unterholz eine Natter lauern, die ihn vielleicht beißen würde, wenn man ihr nicht eine viel schmackhaftere Speise vorsetzte.

Die neuen Aufträge nahm sein Gefolge mit Motivation, nahezu Euphorie zur Kenntnis. Der Galatier konnte nicht umhin, gewissen Vorschlägen zu folgen, die folgten. In einem Fall musste er Marcus, den Riemenmacher, jedoch zurechtweisen. Er war etwas zu weit über das Ziel hinausgeschossen, verstand jedoch, warum nun eine Rüge folgen musste. Der Meister blickte seine Zubringer und deren Schatten am Brückenbogen an. In den Schatten spiegelten sich verzerrte, zurückgewiesene Fratzen, die alle danach strebten, sich über das zu erheben, was sie nun unter dieser Brücke sitzen ließ. Gescheiterte Scherben mehrerer Gesellschaften und Lebensanschauungen, die nun ihr eigenes Schicksal schmieden würden.

Nachdem er sie entließ, sammelte der Galatier die rings um die Laterne aufgereiten Hölzer ein, die allesamt mit einer rotbraunen Flüssigkeit bemalt waren, ein. Die schemenhaft in das Holz gemalten Gesichter konnten zwar nicht ihr Missfallen ausdrücken, allerdings hätte der Meister dies auch nicht zugelassen. Einer war bereits aus dem Rahmen gefallen und trieb dafür nun Gesicht abwärts als totes Holz flussabwärts.

Die anderen Hölzer landeten in einem schlichten Leinenbeutel. Als der Galatier sich schließlich schlafen legte, hörte er, wie sich die Stimmen entfernten. Seine Gefolgschaft würde seine Aufträge gewissenhafter ausführen, nun wo sie wussten, was mit jenen passierte, die über ihr Ziel hinausschossen. Und als der Schlaf näher kam, verebbten die Stimmen in seinem Kopf auch langsam. Bis das nächste Konvent anbrechen sollte.
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