Vom Falken und seiner Beute
#3
Erkundung des Wolfsried, Wandelmond 1406

“Du willst wohin?” Valeska verschluckte sich beinahe an ihrem Brötchen, von dem sie mit ihrem unterschüttlichern Appetit herzhaft abgebissen hatte, und blinzelte mir in einer Mischung aus Überraschung und Schrecken entgegen. Die Stallmagd aus dem Neuen Hafen, wo ich bis vor kurzem ein einfaches Zimmer im Kontor bewohnt hatte bevor ich in ein komfortableres und geräumigeres Quartier umgezogen bin, hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mich zwei bis drei Mal die Woche meist zur Frühstückszeit in der Altstadt zu besuchen und sich zu beklagen, wie langweilig ihr Dienst im Stall geworden ist ohne jemanden in der Nähe zu wissen, bei dem sie zum Plaudern unterkommen kann.

Nachdem ich in aller Ruhe meinen Schlucken Tee getrunken und die Tasse abgestellt hatte, erklärte ich mit einem nachsichtigen Lächeln: “In den Wolfsried. Sehen, ob dort noch einige dieser Schreckensbäume wachsen.” Ich ließ mein angebissenes, mit Butter bestrichenes Brötchen auf dem Teller liegen und stemmte mich empor, um meine Tasche zu packen, die ich gedachte, mit auf den kleinen Ausflug zu nehmen. Valeska hatte währenddessen ihre Kaubewegungen wieder aufgenommen und stierte brütend vor sich hin. Seitdem sie mir über den Jahreswechsel über einen ziemlich heftigen Schwäche- und Hustenanfall hinweggeholfen hatte, behandelte sie mich wie einen ihrer ihr anvertrauten Gäuler und insgeheim fluchte ich darüber, dass sie ausgerechnet heute hier auftauchen und ich mich ihr erklären mussten.

“Sie schickt dich, ja?”, fragte sie spitz, während ihr Blick die Briefe aus Hohenquell, welche ich auf dem Tisch liegen gelassen hatte, um die Abschrift des Berichts einer Priesterin aus dem Jahre 1402, als Bäume ebenfalls zum Leben erwacht sind, mit auf meinen Ausflug zu nehmen, regelrechte durchbohrte. Valeska hatte eine rasche Auffassungsgabe und es hätte nichts gebracht, an dieser Stelle irgendetwas zu leugnen oder so zu tun, als wisse ich von nichts. “Sie schickt mich nicht. Sie hat mich darum gebeten. Das ist ein feiner Unterschied.” Ich vertraute Valeska, aber ich hatte versprochen, dass der Inhalt der Korrespondenz vertraulich bliebe, also wanderten die gesammelten Schreiben mitsamt dem Bericht in meine Tasche. Natürlich fehlten neben dem unverweigerlichen Notizbuch und Griffel nicht etwas Proviant und ein Wasserschlauch. Meine Kräutersichel würde ich am Gurt tragen, eher als Abschreckung und Verteidigung gegen Gesindel auf dem Weg.

“Sie weiß aber schon, dass du … also … sie weiß über deine … ähm …” Das Mädchen ließ nicht locker und ich ließ sie noch ein Weilchen zappeln, ehe ich sie sanft erlöste: “Sie weiß um meine … Befindlichkeit, ja.” Das war eine wirklich harmlose Beschreibung für meinen dahinsiechenden Gesundheitszustand “Und es wäre nun ohnehin zu spät, den Ausflug abzublasen.” “Zu spät, wie meinst du das?” “Ich habe, bevor du erschienen bist, ungefähr die doppelte Dosis meiner üblichen Stärkungsmittel eingenommen. Wenn ich mich nun nicht wenigstens ein klein wenig verausgabe, werde ich die nächsten Tage mit pochendem Herzen und aufgerissenen Pupillen hellwach umherwandeln und dann einen ziemlichen Absturz erfahren.”

An ihrer gefurchten Stirn und dem stierenden Blick erkannte ich, dass sie über meine Worte nachdachte und sich wohl fragte, ob das nur ein Scherz gewesen sei. Mein leises Auflachen ließ sie weiter im Unklaren und ich machte mich daran, weiter meine Habseligkeiten zu packen und schlussendlich die derben Stiefel, die gerade recht waren für eine Wanderschaft im Moor, überzustreifen. Gänzlich übertrieben hatte ich nicht. Ich hatte meine Heilmittel heute etwas großzügiger bemessen und auch ein Fläschen mit zu meinen Sachen getan. Nur die Wirkung hatte ich vielleicht etwas übersteigert beschrieben.

“Dann komme ich mit!”, verkündete die Stallmagd in einem letzten Versuch des Aufbegehrens. “Nein, wenn ich morgen Abend nicht zurück bin, muss ja irgendwer Bescheid wissen, wo ich abgeblieben bin.”, entschied ich ohne Widerrede zuzulassen und drückte Valeska einen Kuss auf den Schopf. “Mach dir nicht zu viele Sorgen. Zieh die Tür hinter dir zu, wenn du gehst.” Und rasch nahm ich die Stufen nach unten und war zur Straße hinaus.

Es war erstaunlich, wie schnell ich voran kam, wenn ich einmal nicht zu allen Seiten ins Gebüsch sprang, um ein besonders schönes Exemplar der Steinraute oder der Tollkirsche zu bewundern und eventuell in mein Notizbuch zu skizzieren. Der Tag versprach, warm zu werden, ohne bereits die schwüle Hitze des Sommers mit sich zu tragen und ich konnte unbehelligt und mit aufgerollten Ärmeln zunächst der Straße Richtung Ravinsthal, dann der Eisenstraße folgen. Gegen Mittag machte ich Rast am Mithrasschrein. Während ich Apfel und Käse verzehrte, zog ich nochmals den Bericht zu Rate. Ein Schauer jagte mir wie stets bei der Lektüre über den Rücken: Mir vorzustellen, dass einer jener Bäume ein Mädchen in sich getragen hatte, welches mehr tot als lebendig gewesen sein und sicherlich ungeheure Schmerzen erlitten haben musste, war eine grässliche Vorstellung, auf die ich mir allerdings keinen Reim bilden konnte.

Nachdem ich mich gestärkt hatte, ging ich zur nächsten Etappe meiner Reise über. Die Straße führte mich nicht weiter. Ich hatte eigentlich gedacht, bis zur Grenzfestung durchzukommen, aber die Brücke war unpassierbar, so dass ich mich schneller als gedacht ins Moor schlagen musste. Die Indharimer hatten während ihres Feldzuges irgendeine Hexerei mit dieser Gegend angestellt. Nur vereinzelt hörte ich den Ruf eines Vogels oder das Rascheln des Schilfs, wenn der Wind hinweg blies - ansonsten war es beinahe unheimlich still. Doch eines hatten auch die Fremdländer nicht vertreiben können: Dank der lauen Temperaturen und den morastigen, feuchten Pfützen hatten die Mücken bereits jetzt am Anfang des Frühjahrs gut gedeihen können. Während ich aufpassen musste, nicht bis zum Knie im Schlamm zu stecken, wedelte ich mir diese lästigen Viecher vom Leib, doch gänzlich verhindern, dass sie mich stachen, konnte ich nicht.

Ich muss gestehen, dass ich den eigentlichen Auftrag meines Ausfluges etwas aus den Augen verlor. Der Wolfsried schien nicht die bevorzugte Gegend für meine geschätzten Kollegen Kräutersammler zu sein und so konnte sich Pflanzen, die in den Wäldern Servanos recht schnell ausgerupft wurden, gar prächtig entwickeln. Rasch hatte ich meine Tasche mit einigen fetten Kräuter- und Gewächsexemplaren gefüllt. Aber auch als ich mich darauf besann, nach verkümmerten, garstigen Weiden Ausschau zu halten, fiel mir nichts dergleichen ins Auge. Ich konnte allerdings auch nicht weiter in den Ried vordringen, als der kleine Kreis, den ich bereits zum wiederholten Male gezogen hatte. Zum einen machte mir mein erschöpftes Herz einen Strich durch die Rechnung, zum anderen regte sich in Richtung Hohenmarschen doch mehr garstiges Getier im Röhricht als Anfangs vermutet. Auch wenn ich auf der Höhe meiner Kräfte gewesen wäre, hätte ich mit meiner Sichel und Faust nicht viel gegen diese Biester ausrichten können.

Es war ohnehin Zeit, heim zu kehren. Es dämmerte bereits und die Luft wurde zunehmend kühler und dünner. Auch der Gedanke, dass nun doch ein paar der Bäume zum Leben erwachen würden, ließ meine Füße schneller Richtung Eisenstraße und somit Löwenstein eilen. Sollte ich es hierbei belassen oder nochmals zurückkehren mit schlagkräftiger Hilfe an meiner Seite? Ich war mir nicht ganz schlüssig. Der Bericht, den ich nach Hohenquell schicken wollte, würde recht unbefriedigend ausfallen, aber vielleicht gab es auch nichts weiter zu entdecken, außer ein paar abnormen Kröten und räudigen Sumpfratten? Die Nachtwächter hatten die Laternen angezündet, der abendliche Wachwechsel an den Stadttoren war längst vollzogen, als ich mich Richtung Altstadt schleppte. Ich sehnte mich nach einem Zuber mit kaltem Wasser, um mir den Schweiß vom Leib zu waschen und die zahllosen Mückenstiche zu kühlen, ein frisches Hemd und eine heiße Tasse Tee.

Der Ausflug stellte sich im Nachhinein doch als kräftezehrender heraus als gedacht. Eine weitere Expedition schon am darauffolgenden Tag hätte mich sicher für zwei oder drei Tage ans Bett gefesselt. Die nächste Zeit verbrachte ich zu Hause im Morgenmantel damit, meine Eindrücke, auch für mich selber, niederzuschreiben, die gefundenen Kräuter zu klassifizieren, und Valeska, die mir mit ihrer triumphalen “Ich-habe-es-ja-gewusst!”-Miene ordentlichen auf die Nerven ging, mit Botengängen zur Bibliothek (“Da gibt es ein Buch über diverse Sümpfe Amhrans, das könntest du mir bitte besorgen!”) dem Markt (“Butter ist aus!”) oder gar Ravinsthal (“Schreinerin Larija hat sicher ein paar Angebote parat. Bestell ihr doch meine besten Grüße!”) zu beschäftigen. Ich konnte nur hoffen, dass der Bote meine mündliche Nachricht, dass eventuell die nächsten Tage keine Briefe zu erwarten wären, zuverlässig in Hohenquell aufgesagt hätte und die Empfängerin sich keine Sorgen machte beziehungsweise unerwarteterweise im Zimmer stehen würde …
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Vom Falken und seiner Beute - von Dewain Dary - 17.09.2018, 00:54
RE: Vom Falken und seiner Beute - von Dewain Dary - 23.04.2019, 19:27



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