Die Geschichte von den tapferen Schneiderlinnen
#2
Marie erinnerte sich noch daran. Den langgezogenen, durch die dunkle Holzdecke und kleine Fenster dennoch bedrängt wirkenden Raum. An die strenge Stimme der Schneidermeisterin - nicht mehr an deren Namen, aber sehr wohl an den Ton, an die straff zurückgenommenen, mausbraunen Haare und die verkniffenen Züge der Frau. An die schier unendlichen Stunden in vorangebeugter Haltung vor einem viel zu kleinen, schiefen Tisch, die Stiche in ihren Fingern (Fingerhüte wurden keine ausgeteilt), den ewig säuerlichen Geruch menschlicher Leiber im schlecht gelüfteten Raum: All das nur, um am Ende mit einem auf diese Weise hervorgequälten Hemd da zu sitzen, das niemand kaufen wollte, weil ein Ärmel kürzer war als der Andere. Sie hatte die Schneiderlehre gehasst, in die man sie von der Straße aufgesammelt hatte, und war aus diesem Gefängnis nur zu gern bloß ein Jahr später wieder auf die Straße geflohen, kaum dass sich eine Gelegenheit in Gestalt eines freundlich dreinblickenden Kerls namens Amil geboten hatte. 

Die Einsicht war erst später gekommen. Einsicht darüber, dass die Einrichtung von spärlichen Spenden überlebte, und nicht gleichsam Fingerhüte und eine tägliche Mahlzeit für die Mädchen bezahlen konnte. Einsicht darüber, dass es aus eben jenem Grund auch keinen besseren Raum gab, dass die Schneidermeisterin lediglich tat was sie konnte, Jahr um Jahr, Tag um Tag mit meist talentfreien Gören wie Klara konfrontiert, die weder Dankbarkeit noch Mühe aufbrachten und sich am Ende bloß durchfüttern ließen, unendliche Stoffbahnen für schiefe Hemden verschwendend. Einsicht über Amil.

Und jetzt, da Marie seit geschlagenen drei Stunden über dem saß, was einmal einer ihrer Leinenmäntel gewesen war, wünschte sie sich sehnlichst, in dieser lange verflogenen, eine Ewigkeit und zumindest zwei Leben zurückliegenden Zeit, wenigstens etwas eifriger gelernt zu haben. Nun aber kämpfte sie ebenso sehr mit ihrem eigenen Gedächtnis und mangelnder Erfahrung wie auch damit, mittels eines grob zugeschnittenen Stücks Seife eine gerade Linie auf den Stoff vor sich zu bekommen. Angeblich tat man es hier mit Kreide. Kreide hatte die Blondine jedoch keine, und noch weniger Lust, sich auf der Suche nach jener über den Markt zu schleppen, also hielt, wie damals in Rabenstein, ein Stück Seife her. 

Der wievielte Versuch war es? Der dritte, vierte? Sie wusste es nicht mehr, fluchte lediglich leise vor sich hin, über den am Boden ausgelegten Stoff kriechend, um mühsam halb vergessenen Prinzipien und Regeln folgend die Umrisse der bereits darauf abgepausten Leinenmantelstücke abzuändern. Ein schmaleres Bruststück, leichtere Ärmel, der Rockteil...der Rockteil bauschiger. Nur Huren trugen enge Röcke. Zumindest darüber herrschte in ihrem Kopf Gewissheit.
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Die Geschichte von den tapferen Schneiderlinnen - von Rahel L. Goldblatt - 21.04.2018, 18:53
RE: Die Geschichte von den tapferen Schneiderlinnen - von Marie Philippa Strastenberg - 22.04.2018, 14:39
RE: Die Geschichte von den tapferen Schneiderlinnen - von Rahel L. Goldblatt - 23.04.2018, 19:52
RE: Die Geschichte von den tapferen Schneiderlinnen - von Marie Philippa Strastenberg - 24.04.2018, 11:51



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