FSK-18 Auf dünnem Eis
#12
27. Ernting (Sommer)

Es war die Stunde vor der Morgenandacht. Der Tempel würde lichtdurchflutet erstrahlen, und die Gläubigen die Heiligkeit des Herrn in ihren Herzen erwachsen spüren. Man würde mit frischgewaschenem Gesicht unter das Tempeldach treten. Man würde chorisch die altbekannten Worte sprechen. Man würde sich gemeinsam erheben, man würde sich gemeinsam niederlassen. Man wäre eins mit einer erstarkenden Gemeinde aus Mithrasgläubigen, man wäre eine jubelnde Stimme in einem mächtigen Chor, der Tempelmauern erzittern lassen konnte. Man würde die Hände im rechten Augenblick falten, das „So sei es!“ an der Seite seiner Glaubensbrüder und –schwestern sprechen und die Wärme des anbrechenden Tages dankbar empfangen, wenn sie durch die bunten Glasfenster fiel.

Es gab wenig, das Marit Stein liebte und vieles, das sie hasste. Aber die Morgenandacht liebte sie seit jeher. Daran dachte sie, als sie eine Zange, eine Fackel, zehn schmale Holzpflöcke und einen kleinen, goldenen Hammer auf einem goldenen Tablett drapierte. Nicht an ausgerissene Fingernägel. Nicht an verbrannte Hautstellen in empfindlichen Körperregionen. Nicht an das Schmatzen von eingetriebenem Span unter Haut. Nicht an Schreie. An die Morgenandacht.

Sein Siegelring stieß immer wieder gegen die goldene Schüssel, in der er sich die Hände wusch. Dieses dumpfe Geräusch war das einzige, welches die Stille in der kleinen, lichtlosen Kammer in den Eingeweiden des Tempels störte. Die Kammer war zur Vorbereitung gedacht und bestand ausschließlich aus dunklem Holz und grauem Stein. Schwere Eichenkästen nahmen die gesamte Längsseite ein. Unzählige Schubladen wuchsen bis zur Decke, fein säuberlich außen beschriftet. Ihr Inhalt? Werkzeuge der Pein.

„Seife.“ Er hatte sich an der einen Breitseite des einzigen Möbelstücks, eines einfachen, schweren Tisches, aufgebaut, sie bereitete an der anderen jene Hilfsmittel vor, die der Wahrheitsfindung dienen sollten.

Marit Stein reichte dem Erzpriester ein perfekt geformtes weißes Seifenoval mit eingestanztem T, das von einem eifrigen Anwärter auf einem lächerlich kleinen Teller platziert worden war. Ein Gruß der Talers, eine Aufmerksamkeit für die neue Kundschaft. Ein eigener kleiner Goldteller für Seife. Silendir war so eigentümlich. Penibel trocknete seine Seligkeit sich die Hände mit einem bestickten Leinentaschentuch. Geistesabwesend starrte Marit Stein auf die Stickerei: „Ewig Mithras!“ Sie hatte nicht bedacht, wie schnell er Witterung aufnehmen konnte.

„Habt Ihr Zweifel? Ihr habt sein Haus in Brand gesetzt, Anwärterin. Vergesst das nie. Das wart Ihr allein.“

„Sehr wohl, Eure Seligkeit.“

„Das war ein Lob, Anwärterin Stein.“ Ein Lob und eine Drohung. Wenn jemand fragte, wer das Haus der Asche gleichgemacht hatte, war ihr Name die Antwort. Sie wusste das, genauso wie sie wusste, wie die Hammerhallner Obrigkeit agieren würde, wenn man Häuser in Brand setzte: Sie würde den Büttel schicken, jemanden finden, der unsanft am Schlafittchen vor aller Augen aus seinem Haus gezogen werden konnte und den Verantwortlichen einkerkern, bis eine fürstliche Entscheidung am Tisch war. Welchen Glaubens man war, welche Motive man hatte, das kümmerte den Büttel dabei so wenig wie goldene Seifenteller. Aber Silendir war nicht Nortgard.

„Ich habe es verstanden, Eure Seligkeit. Danke, Eure Seligkeit.“

„Weder Anwärter Ruthe noch Ihr habt also etwas von Wert bei ihm gefunden. Keine Papiere, keine Briefe. Nichts. So stand es in seinem – mit Fehlern gespicktem – Bericht.“ Er las aus der Akte vor, die Hände daneben flach auf den Tisch gestemmt.

„Lan Parzers Armut ist der schmierige Fleck auf dem reinweißen Altartuch, der das Auge beleidigt, Eure Seligkeit. Nein, wir haben nichts bei ihm gefunden außer einer Armada von Flöhen.“

Er schaute auf und sie zwang sich, seinem Blick ehern standzuhalten. Zu viele Worte? Zu viel Gegensatz zu ihrer üblichen Einsilbigkeit? War die Lüge so offensichtlich? Die Münze brannte heiß in der Wappenrocktasche. Sie spürte nervöse Hitze ihr Gesicht hinaufsteigen und hoffte auf das fahle Licht als Komplizen. Schließlich wandte er sich zu den Schubladen und entnahm ihnen ein paar dünne Seile, die er prüfend spannte. Zufriedengestellt hängte er sie an seinen Gürtel.

„Das muss nichts heißen, Anwärterin. Er hatte kaum Zeit, etwas an sich zu raffen. Wir werden die Wahrheit ans Licht bringen, so wie es ihr bestimmt ist. Wir brennen die Falschheit und die Sünde aus ihm, denn so und nicht anders hat es jeder verdient, der sich dem Licht in solcher Hybris entgegensetzt.“

„Jawohl, Eure Seligkeit.“

Er schritt zu der niederen Türe, die in den Kerker hinabführte und öffnete sie weit, nur um wieder einen Schritt zur Seite zu tun. Sie hatte schon das Tablett aufgehoben, bereit, es an den Ort seiner Bestimmung zu tragen.

„Singt etwas.“

„Bitte?“ Sie ließ den Titel weg. 

„Ihr habt in Nortgard gesungen, Anwärterin. Singt hier.“

„Ich kenne keine silendrischen Lieder.“

„Singt ein nortgardisches. Für dieses Vieh da unten macht es keinen Unterschied. Wir werden es das Wort des Herrn fürchten lehren. Das ist ein Vorgeschmack. Ihr seid das Schwert des Herrn. Doch nicht jeder fürchtet Stahl. Lernt, feine Klingen zu ziehen, wenn es sein muss.“

Was sie sagen wollte, war: „Man erhebt seine Stimme nicht in Kellern, wo das Licht so unendlich weit entfernt ist.“
Was sie sagte, war: „Wie Ihr wünscht.“

Die Stimme klang ihr selbst falsch und fremd in den Ohren, von den Wänden zurückgeworfen, gedämpfter als sonst. Das Lied, das ihr als erstes in den Sinn kam, war für hohe Feiertage gedacht, die Töne klangen verzerrt, die Harmonien unausgewogen und sie kämpfte sich förmlich bis ans Ende:

Tauet Himmel den Gerechten // Wolken regnet ihn herab // rief das Volk in bangen Nächten // dem er die Verheißung gab // Einst den Retter selbst zu sehen // ins Elysium einzugehen // denn verschlossen war das Tor // bis dann Mithras trat hervor

„Ihr werdet die Instrumente ansetzen. Ich werde sprechen.“

„Eure Seligkeit.. ich.. das kann ich nicht.“

„Ihr könnt, Ihr werdet.“

Er wandte sich zur Treppe, und ob sie sich über diese Aufgabe freute, ob sie sie scheute wie der Dämon den jungen Morgen, ob sie sich daraufstürzte oder sich verweigerte – es spielte keine Rolle. Benommen und hölzern folgte sie dem Erzpriester in die Tiefe. Pechfackeln erhellten die enge Treppe. Es wurde kälter und kälter. Ahnungen von Sommer, von Wärme und Licht verflüchtigten sich mit jeder Stufe mehr, bis ihr nur der blanke Wille blieb, zu tun, was zu tun war.

Lan Parzer war an die Wand gerutscht. Sie fand seinen Anblick erbärmlich. Ein dreckiges Bündel Mensch hinter Gittern mit einem Bolzen im Fuß, das in einem Haufen Lumpen kauerte. Dieses Geschöpf, ein ekelhaftes Konvolut aus Sehnen, Fleisch, Haut und Knochen sollte es auf Hermeno Falkners Leben abgesehen haben? Obschon breitschultrig gebaut, war im Augenblick jegliche Spannung aus seinem Körper gewichen. Eine mitleidige, aber vorsichtige Seele hatte ihm Essen hingestellt. Er war an Händen und Beinen gefesselt und die angekauten Brocken Brot in der Schüssel verkündeten, dass er versucht haben musste, wie ein Tier an ihnen herumzubeißen. Seine Augen waren geweitet. Kein Wort verließ die spröden Lippen des Gefangenen.

Falk packte zwei Sessel an der Lehne und stellte sie einander gegenüber. Ein leeres Fass bildete einen kruden Abstelltisch für Marit Steins goldenes Tablett mit den finsteren Werkzeugen.

„Heraus mit ihm. Genug der Faulenzerei.“

Falk drückte ihr seinen Schlüsselbund in die Hand. Sie schritt mit bleiernen Gliedern zur Zellentüre, schloss sie langsam auf, öffnete sie mit Bedacht und packte den Gefangenen am Oberarm. Halbherzig versuchte er, sich zu wehren, doch nach einer Nacht im Kerker und mit der Verletzung, die ihn zwang, sein Bein so still wie möglich zu halten, um den Bolzen nicht tiefer zu treiben, blieb es beim Versuch. Marit trat ihm einmal gegen den Bolzen im Fuß, der damit abbrach. Er heulte auf, erschlaffte aber in ihrem Griff und ließ sich zum Sessel ziehen. Sie hievte ihn hinauf, nahm Falks angebotene Seile entgegen und fädelte sie in die Fesseln des Gefangenen ein. Für einen kurzen, irren Moment hallte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf wieder, die Nadel und Faden hochhielt und mahnte: „Langes Fädchen, faules Mädchen, Vigdis! Nun schneid schon ab.“ Sie hätte gern gelacht. Sie lachte nicht. Nicht an Mutter denken. Nicht an Nortgard. Nicht an... keine Namen mehr. Nur an die Morgenandacht.

Mit methodischen Griffen wand sie die Seile um die Stuhlbeine. Die Handfesseln löste sie, damit sie die Arme um die Rückenlehne führen und die Hände dort wieder festbinden konnte. Falk setzte ein Raubtierlächeln auf. Parzers Blick flackerte zu dem hübschen Tablett und dem in Szene gesetzten Werkzeug, das darauf prangte.

„Wir legen Wert auf Ordnung, müsst Ihr wissen. Es klebt kein Blut eines anderen daran, falls Euch das Sorge bereiten sollte.“

„Ich spucke auf deine Ordnung, du Schweinepriester!“

„Na na na. Nur mal nicht unflätig werden. Anwärterin, ich denke das verdient einen Span. Was meint Ihr?“

Sie antwortete nicht, sie handelte nur. Das Hämmerchen sah aus wie das teure, filigrane Instrument eines Heilers, der sich nur um silendrischen Adel kümmerte. Es würde sich gewiss gut in einer Heilervitrine machen. Lan Parzers Hand wollte aus der schraubstockartigen Umklammerung fliehen, in die sie sie zwang, aber da hatte sie die Rechnung ohne Anwärterin Stein gemacht. Sie sang das Lied im Kopf noch einmal, als der Span zwischen Nagel und Haut getrieben wurde.

Tauet Himmel den Gerechten

„Du Hure!“

„Noch einen, Anwärterin. Er lernt nicht.“

Wolken regnet ihn herab

Haut war so nachgiebig.

Rief das Volk in bangen Nächten

„Mithrasdreckstück!“

„Alle zehn, Anwärterin.“

Dem er die Verheißung gab

Seine Hände waren gekrümmte Klauen geworden. Marit Stein trat hinter Falk auf die andere Seite und richtete den Blick zur Wendeltreppe, weit über den Kopf des Gefangenen hinweg.

„Wer sind die Drahtzieher?“

„Verfaul doch im Abyss, Hundsfott.“

„Ihr habt die Anwärterin kennengelernt. Ihr seht die Zange hier. Wisst Ihr, wofür die Zange ist? Dafür, Euch die Nägel herauszureißen. Jeden einzeln. Ihr habt allerdings nicht nur zehn Fingernägel, sondern ihr habt auch Füße. Ich bin überzeugt davon, dass sie drecksstarrend sind, aber das wird Anwärterin Stein nicht aufhalten. Wir finden Handschuhe für sie. Wie ich schon sagte, wir legen großen Wert auf Ordnung. Ihr könnt Euch nun also entscheiden. Entweder Ihr sprecht und wir lassen Euch keine weiteren Zuwendungen zukommen, Ihr wandert wieder zurück in Eure Zelle und könnt dort den Rest Eurer Tage bei guter Verpflegung zubringen. Oder Ihr schweigt und lernt unsere weniger gastfreundliche Seite kennen.“

Falk neigte sich nach vorne, als wolle er Parzer ein Geheimnis erzählen. Dieser starrte ihn schweißgebadet und leichenblass an.

„Wir schätzen es nicht, wenn man uns angreift, Herr Parzer. Das werdet Ihr gewiss verstehen.“

„Deine Mutter soll sich schrundig kratzen, bis sie elendig verreckt, Arschloch.“

Der Erzpriester drehte den Kopf zu Anwärterin Stein und schnalzte mit der Zunge.

„Ich würde der Anwärterin ja befehlen, Seife zu holen, um Euch den Mund damit auszuwaschen. Aber die ist eigentlich viel zu schade für Euch. Nein. Nein, wir sparen uns die Seife. Wir werden übergehen zu Mithras’ ureigenstem Element.“

Wie ein Schauspieler, der seine Mitspieler präsentierte, wies Falk mit grandios ausholender Geste auf die unbedrohlich ruhende Pechfackel am Tablett.

„Wenn ich bitten darf, Anwärterin.“

Sie schloss die Augen für zwei selige, lange Momente, als sie die Fackel an einer der schon brennenden Lichtquellen im Kerker entzündete. Parzer knurrte und geiferte Beleidigungen. Angesichts der nahenden Flamme erblasste er unter seinem verschwitzten, gequälten Gesicht. Er musste die Wärme spüren, sie trat hinter ihn und hielt die Fackel nur eine Handbreit von seinem Kopf entfernt.

Laurenz Falks Züge explodierten in einem herzlichen Lächeln.

„Ihr wollte das Licht des Herrn nicht nah an Euch wissen? Wie bedauerlich. Anwärterin, ich denke, wir fangen mit den Kniekehlen an. Wenn der Gefangene sich dann nicht kooperativ zeigt, versucht es mit den Achselhöhlen. Wer braucht schon Achselhöhlen, nicht wahr? Und wenn er hernach immer noch meint, den Helden spielen zu müssen..“

Er senkte den Blick auf Lan Parzers Hosenbund unter der Tunika ab.

Marit Stein dachte angestrengt an Madita Talers gepudertes Haar, den schweren Brokatstoff der Vorhänge in ihrem prunkvollen Haus, die sorgfältig aneinander gereihten Bücher in staublosen Eichenregalen, die konzentrierte Zivilisation, die Kristallgläser. Labsal. Ordnung.  Frau Taler würde maßlos enttäuscht sein, denn ein kleiner hohenmarschner Priester aus Lilienbruch war eingeteilt, die Messe zu halten, gerade in diesen Momenten. Morgenandacht, Morgenandacht, Morgenandacht.

„Morrigús Armee“, brach es aus dem Gefangenen hervor, „ihr sucht nach Morrigús Armee.“ Beschämt wandte er den Kopf ab, als Tränen über seine Wangen flossen.

Der Erzpriester aber hob den Kopf und musterte die Anwärterin und den Gefangenen fast sanft.

„Das habt Ihr gut gemacht.“

Niemand wusste, wen er meinte.
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
3. Vor der Lichtwache - von Marit Stein - 11.04.2017, 13:13
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 01.06.2017, 01:31
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