FSK-18 Auf dünnem Eis
#8
17. Heuert (Sommer)

Marit strich der anderen über den winzigen Dutt aus schmutzigbraunem Haar, fasste sie um die schmächtigen Schultern und drehte sie zu dem halb angelaufenen Spiegel. Solange die Mitschwester nicht redete, ertrug sie Talpa gut. Der weißblonde Schopf der Nortgarderin überragte den der Duttträgerin um mehr als einen Kopf, was einen Stuhl unnötig gemacht hatte. Ein Tischchen daneben diente ihr als improvisierter Frisiertisch und beherbergte ein solides Buchenholzkästchen, aus dem zahllose Utensilien quollen.

In einer fernen Ecke des Schlafssaals rezitierte jemand eine Heiligenballade unter Ahs und Ohs ob der Gedächtnisleistung des Vortragenden. Einer nach dem anderen tröpfelten die Novizen und Anwärter zurück in den ausladenden Raum und mit ihnen kroch die milde Sommernacht allmählich von draußen herein. Kerzen wurden rundherum entzündet und tauchten den Raum in ein gnädig schmeichelndes Licht.

„Voilá. Im Winter bemühen wir uns um eine andere Farbe. Dann kannst du sagen, es sei nachgedunkelt und fängst dir keine Schelte ein.“

Talpa blinzelte. Eine vertikale Linie trennte ihr Spiegelbild in zwei Hälften, die eine verdeckt von der angelaufenen Seite, die andere intakt, ein fremdes Wesen offenbarend. Schwach gelocktes Haar, zuvor in keine erkennbare Form gebracht und eher an einen Ackerfleck wild wuchernde Steinraute erinnernd als an eine Frisur, wagte es nicht mehr, den ihm zugewiesenen Platz zu verlassen. Ein Sammelsurium an Haarkämmen sorgte für einen ordentlichen Sitz. Der Effekt der Gesichtsteilung war ein grotesker und ließ ihr fliehendes Kinn erscheinen, als wolle es zur anderen, verdeckten Seite flüchten. Doch ihr eines erkennbares Auge war tränennass, als sie sich betrachtete und schließlich flink den Kopf drehte, um sich von allen Seiten zu betrachten.

„Schön, Marit. Wirklich. So hübsch. Du meinst, ich kann das auch alleine?“

„Ich bringe es dir bei. Es ist ganz einfach, wenn die Finger es einmal verstanden haben.“

Die Hände der Hohenmarschnerin befingerten den Dutt begeistert, aber behutsam genug, um ihn nicht zu zerstören. Die andere winkte nur ab, die Relevanz des eigenen Tuns negierend, und befreite ihre Kämme vom fremden Haar der Mitschwester, sortierte ihre Bürsten zurück in die Schatulle mit den sechs kleinen Schubladen und sammelte die ungenutzten Haarklammern auf. Es war wichtig, die Dinge jetzt nicht zu überstürzen. Talpa riss sich von ihrem Spiegelbild los und griff wahllos nach einem Nest an Haarbändern, das auf dem kleinen Brettchen unter dem Spiegel auf Einsortierung harrte. Nervöse Finger zogen die unterste Schublade des kleinen Kästchens auf, ehe Marit sie davon abhalten konnte und grapschten nach der darin ruhenden silbernen Armspange. Den Impuls, Talpas Handgelenk auf ihren Rücken zu drehen, kämpfte deren Besitzerin nieder. Ein bemühtes Lächeln.

„Gib mir ruhig die Bänder.“

Zu spät. Ein fahriger Finger strich über die Buchstaben auf der Innenseite der Spange und Talpa schaute ihre Wohltäterin suchend aus ihren wässrigen Augen an, mit einem überquellenden Drang nach Bestätigung, der in dieser nur Übelkeit hervorrief. Die unsicher wabernde Stimme las leise vor.

„’Für V. Gleich und eins. Seit jeher und für immer. Y.’ Wer sind V. und Y., Marit?“

„Ich weiß es nicht, Schwester. Ein Erbstück. Vermutlich entfernte Verwandte, die es bei einem Besuch liegen lassen haben.“

Marit nahm ihr die Spange aus der Hand als wäre sie nichts als ein Gebrauchsgegenstand, packte aber zu schnell zu und quetschte Talpas vorwitzige Finger dabei unsanft. Diese gab einen kurzen Quieklaut von sich.

......................................

Für die lauernden Bilder hatte sie keine Zeit, aber das kümmerte die Bilder herzlich wenig. Sie schoben sich dennoch ungefragt ins Bewusstsein, jedes eine Fackel, die dieses andere Leben beleuchtete, das in der Dunkelheit aufs Vergessen wartete und nicht vergessen werden konnte. Der Morgen ihres 25. Geburtstag. Frühling 1401, die Eltern ganze Dörfer weit entfernt, aufgehalten vom rasch und überraschend fallenden Schnee, den keiner mehr erwartet hatte. Was eine Tagesreise hätte sein sollen, wurde durch den stetigen Fall der Flocken ruiniert.

Sie strich unruhig durchs Zimmer, schob den schweren Vorhang ruckartig beiseite und starrte die Schneewehen an, die sich vor dem Fenster auftürmten und ans Haus schmiegten. Ein paar Stunden zuvor hatten sie ihn noch wegzuschaufeln versucht, das Unternehmen aber wenig später als zwecklos aufgegeben und stattdessen das Haus verbarrikadiert, wie man es als gelernter Hammerhaller zu tun pflegte, wenn die Natur beschloss, ihre Kräfte zu entfesseln.

„Es wird Tage dauern, bis da wieder ein Durchkommen ist. Sie werden länger ausbleiben müssen als sie wollten.“

Yngvar kommentierte nicht und legte Holzscheite nach. Harz krachte, als das Holz sich protestierend zusammenzog und die Kammern in dem toten Holz aufplatzen ließ. Sie brauchte sich nicht umdrehen, sie wusste allein durch die Folgegeräusche, dass er sich in einen der zwei schweren Sessel vor dem Kamin hatte fallen lassen. Er wählte die Worte sorgfältig, als er sprach.

„Ist es das, was dich beunruhigt, Schwester?“

„Ich mache mir eben Sorgen um sie. Und um uns. Aber wir werden schon durchkommen. Stell dich auf Spiegelei und Grütze ein. Mutter hat noch Pökelfleisch gelagert, wenn es hart auf hart kommt.“ Es klang zu gewollt, sie wusste es selbst. Die Leichtigkeit war forciert.

„Vigdis.“ Das eine Wort nur, sachte Erinnerung: Ich kenne dich zu gut, um dir das abzukaufen.

„Yngvar.“ Schäkern war immer eine Option, wenn man nicht weiterwusste.

„Du siehst bedrückt aus. Wir tun, was wir immer tun. Auch wenn uns keiner dabei beobachtet. Wir halten durch, Vigdis. Wir werden nicht scheitern, denn Mithras wacht, auch wenn kein anderes Auge es tut.“

Sie wandte sich um. „Vielleicht bin ich längst Alander versprochen und du weißt nichts davon. Dann erledigt sich das Durchhalten.“

„Das Alter macht dich grausam, Schwester.“ Er legte ein weiteres Scheit nach und zog einen Mundwinkel hoch, fast arrogant. „Alander ist ein elender Taugenichts und wird es nie zu etwas bringen außer zu dem Vermögen, das Genart ihm vermachen wird. Das wird er unverzüglich wieder verschleudern mit einem weiteren seiner sinnlosen Unternehmen.“

„Vielleicht sind Taugenichtse meine Schwachstelle?“

Er musterte sie. „Warum bist du so zänkisch, Vigdis?“

„Warum bist du so vernünftig, Yngvar?“ Die Wahrheit hatte diese Art, sich ihren Weg zu suchen. Sie drehte sich zurück zum Fenster und schloss die Vorhänge mit einem Ratschen, das die Feuermelodie dumpf unterbrach.

„Dieser Weg würde uns nirgendwo hinführen, das weißt du ebenso gut wie ich. Komm her, setz dich.“

„Ich will nicht.“

„Wenn du dich nicht setzt, kann ich dir dein Geschenk nicht geben.“

Ein Einatmen, dann widerwillig die Frage. „Was ist es?“

„Alanders rechte Hand.“

Sie lachte und ließ sich ihm gegenüber nieder.

„Fang.“

Das Päckchen war schmal und rasch ausgepackt. Die Armspange war ein filigranes Schmuckstück, aus Silber gearbeitet und trug außen feine Gravuren, florale, herrlich gleichmäßige Muster. Sie drehte den Reif und las die Gravur. Er tat, als studiere er die Flammen, wie sie es Vater Tjordan hatten tun sehen. Sie schloss die Augen und ließ sich in den Sessel sinken. Durchhalten...
 ......................................
„Marit?“

„Mmh?“

„Ich hab dich gefragt, ob ich dir nicht auch etwas Gutes tun kann?“

„Ach, Talpa, das ist doch nicht nötig.“

„Meinst du? Ich kann ja auch wenig, das stimmt schon. Ich könnte dir Bolzen schnitzen?“

„Ich würde sie nicht nutzen. Aber Talpa.. da.. wäre doch etwas.“ Ihr Zögern dauerte genau so lange, wie es sollte. Sie hatte geübt, vor dem Spiegel. „Du schreibst doch den Wachplan, nicht wahr?“

„Aye?“

„Teilst du uns da ein, wie es dir beliebt?“

„Schon. Die Ordensmeisterin lässt mir freie Hand.“

„Dann könntest du mir einen Gefallen tun. Ich möchte mit Aurel Behringer Wache halten. So oft es geht.“

„Aurel? Ahm.. warum das denn?“

„Ich habe das Gefühl, er braucht ein paar aufbauende Worte. Er scheint recht zerstreut in letzter Zeit. Ich möchte helfen.“
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
3. Vor der Lichtwache - von Marit Stein - 11.04.2017, 13:13
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 01.06.2017, 01:31
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 04.08.2017, 11:52
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 06.08.2017, 16:11
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 17.08.2017, 20:10
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.08.2017, 12:20
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.12.2017, 18:22
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.12.2017, 21:03
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 31.01.2018, 22:58
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 13.02.2018, 23:44
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 23.02.2018, 01:27
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 16.04.2018, 21:06
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 27.05.2018, 12:09
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 22.06.2018, 18:58



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste