FSK-18 Auf dünnem Eis
#6
15. Heuert 1402, später (Sommer)

Vor sich hindämmernde Stille hatte sich über das stolze Trutzgebäude gegen empörende Gottlosigkeit und verstaubten Vielgötterglauben gelegt wie eine dicke Glasglocke, die jeden Anflug von Weltlichkeit auszusperren vermochte und jedes Geräusch schluckte – kein Vogelzwitschern, kein Blätterrascheln, keine ausgelassenen Rufe der feiernden Bevölkerung Silendirs durchdrangen die steinernen Mauern des Tempels und störten die beiden Mithrasdiener in ihrem abendlichen Ritual. Die Natur hatte genauso wenig einen Platz innerhalb dieser Mauern wie die schwachen alten Götter der Mondwächter, so wenig wie Sündhaftigkeit und wie Überfluss.

„Ich bereue.“ Die Stimme war zum heiseren Krächzen geworden nach drei Stundenläufen in Falks Beichtstuhl.

Der Tempel zeigte sich gänzlich verwaist an diesem 15. Heuert, denn jeder, dessen Beine ihn, gleich wie, zu tragen vermochten, feierte das Fest der Ankunft in Gesellschaft, im brodelnden, religiös euphorisierten Guldenach, dort, wo man sich durch die Straßen schieben lassen musste, weil es sonst kein Durchkommen gab. Wo die Fachwerkshäuser in manchen Straßenzügen an den Giebeln einander zuzunicken schienen und man sich fragen musste, welche verirrte Seele es für eine grandiose Idee gehalten hatte, Häuser so hoch zu bauen, dass der Himmel aus ihren Erdgeschoßen nicht mehr zu erspähen war. Wo olfaktorische Attacken die Nase betäubten und die Sinne verstörten. Beißender Rauch, von den Freudenfeuern, die an jeder Ecke loderten, schlängelte sich natterngleich und listig noch durch die schmalsten Gassen, vermengte sich dort mit einer Wolke aus Schweiß und einem allgegenwärtigen Bratfettgeruch, der empfindliche Menschen an die Ränder der Menschenschlangen trieb, wo sie sich dankbar übergaben. Strahlendes Mithrasrot ließ die Massen, die sich erfolgreich durch die Straßenschläuche gekämpft hatten und an Guldenachs prunkvollen Plätzen zusammendrängten wie das Mastvieh vor der Schlachtung, wie ein wogendes Meer aus Blut erscheinen. Man munkelte, so manch einer wäre schon in traumgleiche, entrückte Zustände verfallen, berauscht von den dort gemeinsam gesprochenen Gebeten, die durch ihr mühlsteinartiges Wiederholen einen Rhythmus erzeugten, der wie ein Sog wirkte. Andernorts wurden mittelmäßig begabte Theaterschauspieler bejubelt, frenetisch Hymnen gesungen und Becher aneinandergedroschen. Alles im Sinne von Mithras, alles im Sinne einer Huldigung. Marit dankte dem Herrn, es nicht miterleben zu müssen, sich nicht klebrig von den verschwitzten Unterarmen anderer lösen zu müssen, keinen Gemeinschaftssinn vortäuschen zu müssen, keinem Kind die Hand auflegen zu müssen, weil die Mutter sie dazu drängte. Es war Geselligkeit, die man suchte, um die Befreiung der Menschen aus der Sklaverei zu feiern. Geselligkeit, die Marit fremd geworden war. Sie suchte sie nicht, denn das allabendliche Ritual mit Falk bot ihr so viel mehr. Vergessen. Auslöschung. Sicherheit. Erlösung.

„Bereust du deine Sünden, Anwärterin?“

„Ich bereue.“

„Widersagst du den sündhaften Gedanken an dein vormaliges Leben?“

„Ich widersage.“

„Schwörst du, dem Herrn Schwert und Schild zu sein?“

„Ich schwöre.“

„Du lügst. Bereust du deine Sünden, Anwärterin?“

Ihr Kopf fühlte sich wie eine Schüssel zerstampftes Rübenmus an, und während Falk sein Trommelfeuer an Fragen nur wisperte, aus einer Ecke die kniende Anwärterin beäugend wie ein Luchs die Beute aus dem Unterholz, war sie angewiesen, ihre Antworten zu brüllen. Auf diese Weise ließ sich das Spiel von Ruf und Antwort für ihn weitaus länger ohne Nachteile fortsetzen. Sie hingegen büßte ihre Stimme schon nach kurzer Zeit an, was die Antworten quälend gestaltete, denn am liebsten hätte sie es ganz vermieden, auch nur einen einzigen weiteren Ton von sich zu geben. Das aber war der Sinn und Zweck der Übung – Befehlen zu folgen lernen, auch wenn der Instinkt es verweigern wollte. Sie sah das ein.

Immer immer und immer endeten ihre Beteuerungen mit seinem peitschenartig hingeschnalzten „Du lügst“. Sie verbat sich anfangs, anzuerkennen, was der Verstand ihr zu sagen versuchte: der Erzpriester empfand Vergnügen bei diesen Übungen, den gebetsmühlenhaften Wiederholungen, den herausgewürgten Beichten. Ihr Auge sah es an dem fixierten Blick, den weiten Pupillen, an seiner vorgeneigten Haltung, wie er nur darauf wartete, bis die Stimme sie verließ, an seinem Elan, der jedes Wort geifernd umkleiden wollte, obwohl er sich den Anstrich der Neutralität und erhabenen Sachlichkeit so gern geben wollte. Marit Stein kannte den Mann wie ihr eigenes Spiegelbild. Abend für Abend widmete er sich der Anwärterin und übersah in seinem frenetischen Eifer, aus ihr ein tödliches Instrument des Herrn ohne Fehl, Tadel und eigenen Willen zu formen, dass er nicht der Einzige war, der lernte. Er war derjenige, der sie anhielt, auszusprechen, wofür sie zuvor keine Worte gefunden hätte und finden hatte wollen. Er war derjenige, der Aufzählungen vergangener Freveltaten einforderte, derjenige, der ans grelle Licht zerrte, was sie gerne in den dunklen Winkeln ihrer Seele vor jedem schockierten Blick und jedem urteilenden Wort verborgen gewusst hätte, der sie nacherzählen ließ, in welch verderbte Tiefen Yngvar und sie abgestiegen waren. Doch auch sie hatte Augen, und sie hatte Ohren. Zwar erreichten ihren Geist keine Beichten aus Falks Leben, doch er nahm jedes missbilligende Zischen des Erzpriesters auf und sortierte es ein, er merkte sich, was diesen Mann besonders empörte, wann seine Augen eng und feindselig wurden, er kategorisierte und er prüfte. Zwar wurden ihr keine seiner Sünden gebeichtet, doch sie las in seinen Zügen, wie die der anderen ihn belebten. Es störte sie nicht, denn er tat Mithras’ Willen an jedem einzelnen Abend in dieser Beichtkammer. Die Ordensmeisterin war verblendet, das nicht zu erkennen.

„Was sagt die De Ecclesia über jene, die den rechten Pfad verlassen?“

„Jene Seelen aber, die vom Pfad des Lichts abweichen und der Dunkelheit anheimfallen, sollen ewige Qualen im Abyss erleiden, wo sie von Dämonen wieder und wieder zerrissen werden und doch nicht sterben können.“

„Hast du auf den Pfad des Lichts zurückgefunden?“

„Das..“ Sie war irritiert von der Abweichung der bekannten Worte. „Das habe ich.“

„Wirst du ihn wieder verlassen?“

Sie spie ihre Antwort krächzend heraus, überschlug sich fast. „Nie wieder.“

„Ich glaube dir.“

War die Antwort Einbildung? Ausgeburt eines überspannten Geistes, dem die schneidend dicke Luft in der engen Kammer zusetzte?

„Ich glaube dir. Es gibt etwas zu tun für dich.“
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
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