FSK-18 Auf dünnem Eis
#5
15. Heuert 1402, Tag der Ankunft (Sommer)

Eine Stimme unterbrach ihre Schritte, als sie kurz vor der 8. Stunde im Begriff war, den Tempel zu betreten.

„He, Steinchen! Wir haben Order, die Fässer dort runterzubringen. Is’ noch Platz am Wagen, setz dich dazu! Die Behr.. die Ordensmeisterin lässt dich sicher, wenn de lieb fragst! Pack mal aus die heiße Liebe, eh?! Oder sparst de die nur für andere auf?!“ 

Langsam drehte sie sich um. Talpa, die blasse Hohenmarschner Sumpfblüte, saß hinter Ruthe und piepste unglücklich, halb verdeckt von dem Störenfried, der eben mit beiden Armen winkte, etwas wie „Nenn sie doch nicht so, Pentos!“

Der Tag der Ankunft war für alle Mithrasgläubigen ein spezielles und ein ausgelassenes Fest, aber das Anwärtergrüppchen hatte in diesem Jahr den Feierlichkeiten ganz besonders entgegengefiebert. Wer klug war, beklagte sich zwar nicht über die getaktete Zeit und die festen Rituale, die eine Vereinigung von Mithrasdienern in Silendir fest im Griff hielten, doch hatte die Sehnsucht nach Unterhaltung und Abwechslung auch in den Klugen zu wuchern angefangen. Ein Theaterstück sollte es anlässlich des Fests sogar in Guldenach geben! Eins mit ganz neuen Moden, munkelte man. Eins, in dem die Schauspieler mit dem Publikum spielten. Seit Tagen schon war dies das einzige Gesprächsthema, das den Schlafsaal beherrschte, wenn die Kerzen ausgingen. Manch einer spekulierte gar entzückt, der lehensübergreifend bekannte Barde Irik Schönaug aus Löwenstein wäre heimlich nach Silendir gereist und spiele den grimmigen Bösewicht des Stücks. Die Abendunterhaltung gestaltete sich ansonsten gänzlich anders für die Anwärter. Von Theaterstücken war da keine Rede. Für gewöhnlich studierte man, hielt Wache oder probierte untertags erlernte Manöver auf dem Kampfplatz aus, bis die Nacht den Tag verschlang und dies nicht mehr möglich war, weil es zappenduster wurde. Kaum einmal bot sich die Gelegenheit für die Jugend des Tempels, Guldenach, das wild pochende Herz Silendirs, zu besuchen.

Ordensmeisterin Behringer wachte wie ein Schießhund über die Ausgänge der Jugend und goutierte keine Vergnügungssucht. Es gingen Geschichten von entfleuchten Schützlingen um, die sich in den weniger respektablen Vierteln Guldenachs verlaufen hatten und förmlich von ihnen verschluckt worden waren. Da, wo Kartenspieler, Trunkenbolde, Diebesgesindel und leichte Mädchen sich die Klinke in die Hand gaben – wenn es denn überhaupt noch eine Klinke gab, die noch nicht für einen schimmligen Laib Brot veräußert worden war. Nein, Behringer hütete ihre Schützlingsschar wie ihre Augäpfel – aber gegen einen Tag der Ankunft hatte selbst eine Ordensmeisterin nichts aufzubringen. Zwar hatte sie am Morgen noch eine feurige Rede über angemessenes Benehmen der Legionsanwärter in der Öffentlichkeit geschwungen, die ganz gewiss nicht umsonst für diesen Tag aufgespart worden war, doch bis zum Abend war der Effekt bei so manchem schon wieder verflogen. Pentos musste die letzten Gedankenfetzen an die Rede, die ihm womöglich noch durch seinen leeren Schädel wehten, im erstbesten Metfass ertränkt haben.

Sein rotes Gesicht und das gar zu feixende, breite Grinsen auf den grobschlächtigen Zügen ließen jedenfalls darauf schließen, dass er einen über den Durst getrunken hatte. Die Mitanwärter versuchten ihn durch Augenrollen, heftige Pscht-Zischer und gezielte Boxschläge gegen die Arme zum Schweigen zu bringen – vergebene Liebesmüh jedoch, denn die Stimme des Anwärters schallte weiterhin ungebremst und marktschreierisch über den Tempelvorplatz. Durch seinen erhöhten Sitz am Kutschbock wurde die akustische Dämpfung nicht gerade besser – eher das Gegenteil. Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer der Ehrwürden Wind von dem Radau bekam. Die Novizen, die an den Tempeltreppen Wache hielten, blickten sich schon nervös um. Pentos Ruthe aber war in seinem Element – endlich durfte er wahrhaft einmal die Zügel in der Hand halten, wo er sonst doch der unterste in der Rangordnung war, endlich einmal einen Wagen mit zwei leidlich temperamentvollen Pferden lenken, sie richtig laufen lassen, und für einen Abend lang endlich einmal allzu strengen Augen entfliehen, um sich in Guldenach zu vergnügen – und das alles unter dem Segen der Obrigkeit!

Marit entschloss sich für die bisher wirksamsten Strategie gegen Kontaktversuche: Ignoranz. Begleitet von einem abschließenden Blick, der, wie sie hoffte, Eiseskälte und Abweisung transportierte, wandte sie sich von der fleischgewordenen Penetranz ab, hin zu den Tempeltoren, die gleichzeitig Abwehr vor Mithras’ Feinden sowie Schutz für seine Gläubigen versprachen. Die mächtigen Torflügel des Tempels ließ sich allerdings nicht so leicht öffnen. So erklangen die Rufe des trunkenen Kampfklotzes weiterhin in ihrem Rücken, während sie sich gegen die Tore stemmte, wenn sie sich auch noch so viel Mühe gab, sie zu überhören. Warmer Sommerwind stahl sich in die düstere Kühle des abendlich dämmrigen Tempels, als die Flügel endlich offenstanden, und vermengte sich mit der kaltgewordenen, wachsschwangeren Luft, während die Anwärtertin weiterhin im Torrahmen stand, dem Platz den Rücken zudrehte und sich in der schwierigen Lektion der Gleichgültigkeit übte, während sie sich Pentos als Boxsack vorstellte.

„Komm schon, sei nich’ so! Falk muss es ja nich’ wissen! Siehst ihn eh jeden Abend! Kannst ja mal schwänzen, eh?! Das macht das Kraut schon nicht fett! Macht den Stein schon nich’ weich. Hehe. HEHE! Lächel mal, eh! He, Steinmadam, red doch mal mit uns! Mach schon, schau mal freundlicher! Für Mithras, eh?! Mithras will dich lachen seh’n, he-ho, he-ho!“

Irgendjemand besaß die Geistesgegenwart, dem fröhlich brüllsingenden Anwärter die Zügel aus der Hand zu reißen und den Fasstransport endlich zu beginnen. Pentos’ Aufmerksamkeit schwenkte auf ein anderes Spiel um und er versuchte, die anderen zu animieren, es ihm gleichzutun und den Wagen durch heftiges Hüpfen zum Schwanken zu bringen.

„Wer nicht hüpft, ist Mondwächter, eh-o, eh-o!“

„Der bringt uns noch in Dämons Küche mit seinem idiotischen Geschwätz!“

Ein mehlsackschweres Plumpsen. Vorsichtiges Spähen nach hinten sprach vom abrupten Niederfallen eines schweren Körpers. Fernes Hufgetrappel kündete von dem zunehmenden Abstand, den der Wagen zum Tempel gewann. Endlich Frieden. Sie atmete aus.

„Der Abyss sind immer die anderen“, hatte Yngvar ihr einmal zugeraunt, einen Herzschlag nachdem die Tür ins Schloss geworfen worden war und Vater sie beinahe in der abgelegenen Blockhütte am See ertappt hätte. Er war früher als gedacht von einer Reise zurückgekehrt. Im letzten Moment hatte Yngvar seine Schritte gehört, die herumliegenden Kleider hastig gepackt, die Schwester in die Ecke gezogen und sich mit ihr an die Wand gedrückt. Sie hatten hinter der Tür gestanden, als Vater diese urplötzlich aufgerissen hatte – wie in einem schlechten Groschenroman. Marit, gerade einmal mit einer rasch übergeworfenen Decke bekleidet, hatte die Hände auf den Mund gepresst und sich verzweifelt in die Handinnenfläche gebissen, um nicht die Beherrschung zu verlieren und sich durch ein Auflachen zu verraten. Gelächter war ihr in der Kehle hochgestiegen wie Sprudelwein. Man nutzte die Hütten am See für Nortgarder Bäder – Sprünge in ein ausgeschlagenes Eisloch, die man nur überstand, wenn man vorher lang genug auf den Holzbänken geschwitzt hatte. Vater glaubte an die heilende Kraft der Schwitzhütte und predigte gerne von ordentlichen Nortgardern, die sie regelmäßig aufsuchen sollten, um sich zu stählen. Damit meinte er allerdings: in entsprechend großer Gesellschaft. Sie hörten ihn unwillig aufschnaufen, als er den Holzschwund bemerkte – Resultat der ausgiebigen Stählungsversuche der Tage zuvor. Die Tür schlug wieder zu. Ein sich entfernendes Stapfen verriet die Absicht des Vaters, neues Holz schlagen zu gehen und war die Rettung.

Der Abyss sind immer die anderen. Er schlummerte aber auch in einem selbst. In Momenten wie diesem, Momenten, die sie unerwartet überfielen, weil sie abgelenkt war – von Pentos, von straßenköterstreunenden Gedanken, von Tatenlosigkeit – schlug sie ein Band zu einem Wesen, das nicht mehr existieren durfte. Es nutzte niemandem und niemand brauchte es: das war der Kern der allabendlichen Begegnungen mit Falk. Kein Name. Keine Vergangenheit. Keine Angreifbarkeit. Ein gebetsmühlenhaftes Wiederholen einer Litanei, an die sie sich klammerte, weil sie Rettung versprach, die die Vergangenheit ihr nicht geben konnte. Und dennoch – der Geschmack der Erinnerung blieb ihr abyssalisch süß am Gaumen kleben, gleich einer klebrigen Frucht, die ihren Zenit überschritten hat. Wie kriecht man aus der eigenen Haut und verbietet sich das Denken? Indem man Muster findet, die es umformen.

„Wer sucht nach dir?“

„Niemand.“

„Was bist du?“

„Der Schild des Herrn, das Schwert des Herrn.“


„Wer sucht nach dir?“

„Niemand.“

„Was bist du?“

„Der Schild des Herrn, das Schwert des Herrn.“


Das Spiel von Ruf und Antwort kannte sie nur zu gut. Chöre nützen es gerne für Effekthascherei. Einst hatte sie selbst den Ruf vorgegeben:
 
Hebe deine Augen auf. Zum Elysium. Von welchem dir Hilfe, dir Hilfe kommt.
 
Leise mussten die anderen Stimmen einsetzen, um sich dann in einer dramatischen Spirale hochzudrehen und in der Wiederholung bei „Elysium“ förmlich zu jubeln.
 
Deine Hilfe kommt vom Herrn. Der uns alle von Knechtschaft befreit hat.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen.
Und der dich behütet, schläft nicht
Der dich behütet, schläft nicht
Er schläft nicht
 
Hier war es ein anderer, der rief. Ihre Aufgabe war es, dem Ruf zu folgen. Was bist du? Nicht: Wer bist du?
 
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
3. Vor der Lichtwache - von Marit Stein - 11.04.2017, 13:13
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 01.06.2017, 01:31
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 04.08.2017, 11:52
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 06.08.2017, 16:11
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 17.08.2017, 20:10
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.08.2017, 12:20
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