Sonnenwende
#6
Sie fällt und sie fällt in undurchdringlicher lichtloser Finsternis. Eine Ewigkeit, bis die Panik selbst verblasst, ausgeblichen wie die Erinnerung an jenen Sommer vor ungezählten Jahren. 

"Nur, bis du dich daran gewöhnt hast." flüstert die Dunkelheit und sie ist zu müde, um sich noch zu erschrecken. 

----------

"Es ist schön, dass Ihr Euch die Zeit nehmen konntet, Leutnant."

Die Löwenwacht war im Laufe der Zeit wieder und wieder umgebaut worden, ehrgeizige Architekten hatten ihren Namen in den Mauern hinterlassen und das Büro, in welches das formelle Schreiben des Stadtrates mich bestellt hatte, war eines der gern verschwiegenen Opfer dieser Bestrebungen: Mit einer Deckenhöhe von deutlich über fünf Schritt hätte der Raum Weite atmen können, wenn er eine entsprechende Grundfläche gehabt hätte, aber tatsächlich gab es hier drinnen kaum genug Platz für den Bittsteller (mich), das erhöhte Podest auf dem ein kolossaler Schreibtisch thronte, die drei Stühle dahinter und natürlich die groteske Wanduhr, die alles mögliche anzeigte, aber gewiss nicht die Zeit.

Schon als ich den Brief geöffnet hatte, war zu erahnen gewesen, was für eine Art von Gespräch dies werden würde: In das Büro von Stadtrates bestellt zu werden, speziell in dieses Büro, das eine beinahe schon höhnische Geste gegenüber der Bürgervertretung war, hinterliess gewöhnlich blaue Flecken auf der Seele und bisweilen auch am Leib. 
Nicht, dass der Stadtrat sich selbst die Hände schmutzig gemacht hätte: Trotz der wuchtigen Erscheinung mit dem breiten Kreuz, den fleischigen Schultern und dem machtvollen Schmerbauch, überliess er solcherlei lieber seinen persönlichen Bediensteten - wie zum Beispiel dem Mann, der rechter Hand des nun über mir residierenden Rates auf einem der Stühle wartete. 

"Ich habe Euch persönlich hierher gebeten, da ich das Gefühl habe, dass Euer Bericht nicht ganz vollständig ist, Leutnant. Ich frage mich .."

Ein kreischendes Scharren von der Standuhr unterbrach die Einleitung des Rates, ein gewaltiger Bronzezeiger rückte vom Symbol eines niedergestreckten Hasen auf das eines Raben mit blutendem Schnabel vor. Bedeutungsvolle Blicke wurde getauscht, während alle warteten, dann nahm der Stadtrat den Faden wieder auf, als wäre er niemals unterbrochen worden.

"Ich frage mich, ob ihr mir etwas genauere Details über die Rolle des Hauptmannes geben könnt."

Das Zögern am Ende des Satzes, gefolgt von einem raschen Blick hinab aus der thronenden Höhe und der gepressten Ergänzung "Leutnant." offenbarte noch etwas Anderes.
Dieses Gespräch fand nicht auf Wunsch meines Gastgebers statt: Wenn er meinen Namen überhaupt in der Akte gelesen hatte, dann nur als nebensächliches, ärgerliches Detail, das keine Rolle spielte vor den Rangabzeichen der Uniform und diese Einsicht öffnete eine ganze Fülle neuer Eindrücke: Der Stadtrat war verärgert, aber nicht über mich. Und während die mitgebrachte Schreiberin nicht das geringste Interesse an etwas anderem, als ihrem Papier zeigte, beobachtete die Hand des Rates mich mit unverhohlenem kühlem Interesse. 

"Gewiss Stadtrat. Ich bedanke mich für die Gelegenheit in einem persönlichen Rahmen Bericht erstatten zu dürfen, da einige der Umstände recht heikel sind. Es gibt starke Hinweise darauf, dass die Schmuggler, die vom Haus Altstadtweg 3 aus arbeiteten, eine Art von Vereinbarung zum gegenseitigen Vorteil mit dem Hauptmann geschlossen hatten. Ein zugedrückten Auge von Seiten der Ordnungshüter gegen die Lieferung schwer zu bekommender Gegenstände. 
Es gab Unregelmässigkeiten bei der Planung von Einsätzen, die den Verdacht erst aufkommen liessen und spätere gezielte .. Umstellungen .., die die Vermutung bedauerlicherweise bestätigten."

Ich schwieg zu den Verbindungen, die sich durch die gesamte Stadtwache zogen, aber der Stadtrat war kein Dummkopf: Ihm musste klar sein, dass auch ein Offizier nicht allein arbeiten konnte. Ohne die Unterstützung der Unteroffiziere und Mannschaften, die Alltäglichkeiten regelten, blieb die Vorstellung einer Deckung von oben eine hübsche Illusion. Der Zugriff auf die Bande war schliesslich unangekündigt im kleinen Rahmen erfolgt.

"Ihr lebt nun schon einige Jahre in Löwenstein, Frau .. Leutnant. Einige Zeit habt ihr für Herrn Areng gearbeitet, der Euch schliesslich in glühenden Farben für den Dienst in der Stadtwache empfahl. Ihr seid .. engagiert."

Ein weiterer Moment des Verstehens: Die Verwurzelung der Schmugglerbunde endete nicht mit dem Hauptmann - es gab noch grössere Fische, die in diesem Teich schwammen. Fische, die nun aufgeschreckt worden waren. Fische, die nicht zögern würden ihre Zähne zu gebrauchen, wenn man ihnen zu nahe kam.

"Natürlich ist das alles nur Spekulation. Indizien. Es war mir wichtig, keinen unnötigen Wirbel zu veranstalten. Die Stadtwache kann keine unnötige Aufregung gebrauchen, aber was unnötig ist .. nun, das liegt beim Stadtrat zu entschieden."

Er verstand. Ich verstand. 

"Eine gute Einstellung .. Leutnant. Ihr seid jung und entschlossen, ich bin zuversichtlich, dass ihr die Karriereleiter noch weiter hinaufsteigen könnt."

Was auch immer er noch hinzufügen wollte: Die Uhr begann ein weiteres Mal zu schlagen, aber dieses Mal blieb der Bronzezeiger unbewegt und stattdessen drehte sich unter höllischem Getöse eine kleine bebilderte Scheibe, die - so mein Eindruck - die Phasen zweier verschiedener Monde anzeigte.

"Noch eines. Solange diese Angelegenheit nicht abgeschlossen und der Hauptmann wieder vollständig im Dienst ist, werdet ihr Euch um die Angelegenheit mit dem Scharfrichter kümmern."

"Scharfrichter?"

"Wir haben einen ausgewählt. Ein Zuwanderer aus Hohenmarschen. Kümmert Euch darum, dass er die Schlüssel zur Dienstwohnung bekommt. Ich schlage vor, dass ihr die Dienstwohnung vorher auf einen tauglichen Zustand prüft und gegegebenfalls Massnahmen ergreift. Der Mann wird morgen früh bei der Hauptwache vorsprechen. Fragen dazu?"

"Keine."

Ganz so einfach würde ich also nicht davonkommen: Die Wohnung des Scharfrichters war verlottert, soviel wusste ich. Sie bis morgen auf Vordermann zu bringen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Und eine Blamage Löwensteins würde auf mich als Verantwortliche zurückfallen. Das geeinte Lächeln auf der Gegenseite besagte, dass sie alle Bescheid wussten, selbst die Schreiberin beäugte mich nun und ich rang mir mit Mühe ein Lächeln ab.

"Ich kümmere mich darum."
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Sonnenwende - von Delahne Magreid - 25.09.2016, 14:09
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 26.09.2016, 14:30
Asche zu Asche - von Delahne Magreid - 04.10.2016, 13:34
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 01.03.2018, 18:26
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 02.03.2018, 20:35
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 18.06.2018, 15:27
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 21.06.2018, 06:15



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste