Sonnenwende
#3
Sie will aus ihrer Haut schlüpfen, denn das ist die einzige Weise in der sie den Schmerz begreifen kann: Er hat eine absurde Körperlosigkeit, als wäre die Seele selbst angeekelt von der Hülle, die sie bewohnt. Aber alle Glieder sind so schwer und steif wie Holz, fremd wie die Prothese eines Kriegsversehrten.
"Du bist wach." flüstert die Dunkelheit und die Zufriedenheit in diesen wenigen Worten lässt sie erzittern. Aber es gibt keinen Fluchtweg.





Die Schatten wurden bereits wieder länger, als ich Eigen in Richtung Westen verliess und den vertrauten Pfad in Richtung des Passes folgte, aber dieses Mal war die Hütte des verschwundenen Jägers nicht mein Ziel. Wo die saftigen Wiesen des Tales in den Gürtel kalkiger Steine übergingen, die aus der Ferne tatsächlich erschienen als wären sie von der sorglosen Hand eines Giganten hier grosszügig verstreut worden, verliess ich den breiten Pfad und wandte mich in Richtung des aufragenden Dreizacks.

Auch jetzt konnten aufmerksame Augen noch die Spuren jener Steine finden, die einst eine Strasse geformt hatten, aber die vielen Jahrzehnte schweren Wetters hatten die Arbeit der Baumeister beinahe ungeschehen gemacht. Noch ein paar Schneeschmelzen, dann würde auch die letzte Ahnung jenes Weges verschwunden sein, der einst zum rechten Zinken des Dreizacks und der dort aufragenden Feste geführt hatte.
Die Jahre hatten auch an den mächtigen Wehrmauern genagt, aber noch immer reckten sie sich wie die verrottenden Reste eines längst schon toten Zahns in die Höhe, warfen zerfurchte Schatten auf zerklüfteten Fels. Es ist eine Ironie, dass die trutzig aufgetürmten Steine den Ritter von Eigen nicht vor seinem Schicksal bewahrt hatten und die Linie der Klimmsteigs mit ihrem kuriosen Wappen war schon seit Generationen erloschen. Wo einst ehrgeizige Pläne ausgebrütet wurden, duckten sich heute alle Jahre einmal müde Wanderer um ein respektlos entfachtes Feuer.

Anderen Behausungen hatte das Schicksal schlimmer mitgespielt: Von dem kleinen Gesindehaus, das sich kaum mehr als einhundert Schritt von der Feste entfernt am Abhang festgeklammert hatte, war fast nichts mehr zu sehen. Ein steinerner Torbogen war geblieben, wo die Mauern schliesslich eingestürzt waren, die Reste geschwärzter Balken kündeten vom letztlichen Tod dieses Hauses. Die Natur hatte noch nicht begonnen diesen Platz zurück zu erobern: Kein Moos hatte sich auf geborstenen Steinen niedergelassen, keine Gräser hatten sich im Inneren ausgesät, kein Vogel war bereit gewesen sein Nest zu bauen.

Ich war nicht überrascht und auf eigentümliche Weise verspürte ich eine Genugtuung bei dem Anblick: Es war nur gerecht, dass die Grausamkeit, der ich hier beigewohnt hatte ein Echo warf.

Ein böser Gedanke.
Aber es ist so leicht das Gute zu vergessen, während das Schlechte bleibt wie eine ewig schwärende Wunde.

Beinahe konnte ich es vor mir sehen: Ein Schicksal, das nicht von Bosheit und Gewalt durchbrochen worden wäre: Ein karges, aber zufriedenes Leben. Einfach, aber nicht ohne Schönheit. Eine Vertrautheit, die zu Liebe hätte reifen können und dann gewiss Kinder. Drei. Vier. Platz hätte das alte Gemäuer genug geboten.

Stattdessen war es zu einem Scheiterhaufen geworden, in dem sich meine Hoffnungen in gleissende Funken verwandelten.
Ich wünschte, ich hätte die Kraft gehabt mich selbst in die Flammen zu stürzen.
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Sonnenwende - von Delahne Magreid - 25.09.2016, 14:09
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 26.09.2016, 14:30
Asche zu Asche - von Delahne Magreid - 04.10.2016, 13:34
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 01.03.2018, 18:26
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RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 21.06.2018, 06:15



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