Die Saat des Irrtums
#26
Ich weiß, an wen ich glaube,
Ich weiß, was fest besteht,
Wenn alles hier im Staube
Wie Staub und Rauch verweht.

Ich weiß, was ewig bleibet,
Wo alles wankt und fällt,
Wo Wahn die Weisen treibet,
Und Trug die Klugen hält.

~Ernst Moritz Arndt (1769 - 1860)


Lionel weinte. Er weinte häufig dieser Tage, fort von seiner Mutter' wachenden Augen, heimlich, weit draußen im Thalwald wo keiner ihn dabei beobachten konnte außer sein Vater.
Kyron stand abseits, geduldig und reglos wie ein Wachmann am Stadttor, die Augen mitleidlos auf den Hinterkopf des Jungen gerichtet. Nur die vage Erinnerung daran, wie hart die Gefühlswelt eines Kindes es an manchen Tagen zu reiten vermochte, fütterte seine Geduld mit weiterem Feuerholz, hielt ihn dort, hielt ihn reglos, hielt die Reitgerte in seinem Stiefel, wo sie auf schlechtere Zeiten wartete.
Die Ziege an ihrem Pflock meckerte halblaut, als würde sie ihre Langeweile zu sich selbst sprechen, und knabberte an ein paar vergilbenden Buchenzweigen.
"Ich kann nicht! Ich will nicht!"
Die Bubenstimme klang verquollen und heiser, müde vom langen Kampf gegen des Vaters gleichmütigen und unerschöpflichen Willen. Kyron seufzte tonlos und regte sich endlich wieder, Knie knackend nach dem langen Verharren. Zielstrebig wanderte er an dem schniefenden Jungen vorbei, ließ sich von der gelangweilten, übermütigen Ziege anrempeln, und legte ihr die Hand auf den Kopf. Ein letztes Blöken, dann erklang ein dumpfes Klopfen und das Tier brach in sich zusammen, Blut aus Augen, Ohren, Mund, Nase tröpfelnd.
Lionels Schluchzen wurde wieder lauter, dann rannte er näher und schlug mit seinen kleinen Fäusten auf Kyrons Oberschenkel ein. "Wieso hast du das gemacht! Die Ziege hat dir nichts getan! Du bist gemein! Nein, böse! Mutter würde weinen wenn sie das sehen würde!" plärrte er aufgelöst, durchbrochen von Schniefen, Schluchzen, Schluckauf und dem dumpfen Pochen von Schlägen gegen massives, schwarzes Blech. Wo seine Fäuste trafen, da brannten sich kleine Knöchelabdrücke durch die Rüstung hindurch in seine Haut, eine feurige Spur von belebender Pein. Teufelshände, gleich zwei davon, Höllenfeuer gleich in ihrer Hitze.
Kyron ließ in gewähren, selbst als er die Brandblasen aufplatzen und die hervorgereizte Flüssigkeit seine Lederhose tränken fühlte. Lionel war nur ein Kind. Er wusste nicht was er tat, konnte nicht beherrschen was seine Gefühle hervorbrachten, und wenn sich dieser ungeübte Zorn jemals gegen seine Mutter richtete, würde er daran zerbrechen. Zu jung, viel zu jung für solch starke Mächte. Kyron hingegen kannte den Schmerz, konnte ihn über sich waschen lassen ohne eine Miene zu verziehen, selbst wenn ihm die Augen zu tränen drohten. Er würde dem Kind keine weitere Last auf die Seele legen. Pein war ein alter Freund.
"Ich sagte dir, die Ziege muss sterben. Wir werden sie heim bringen, damit deine Mutter-"
"Ich will das nicht essen, es ist böse! Du hast sie mit dem Bösen berührt! Ich hasse dich! Ich will dich nie wieder sehen!" Und dann rannte er, stolperte unstet über Äste und Wurzeln in seiner Flucht, und verschwand zwischen den Bäumen.
Ein guter Vater wäre ihm nachgelaufen, hätte sicher gestellt dass er sicher daheim ankam. 
Kyron war kein guter Vater.
Er folgte den Spuren langsam, behäbig, die Ziege auf der Schulter tragend während er sich auf das scheuernde Brennen seiner Kleidung gegen die Brandwunden konzentrierte. Herrliche Folter, belebendes Elend, das messerscharfe Stechen des Lebens. Ein Glück dass Lionel die Außenseite seines Schenkels bearbeitet hatte, denn an anderen Stellen hätte er die Verletzungen wohl kaum vor Cahiras Augen verbergen können. Ein weinendes Familienmitglied war genug für diesen Tag, denn nichts trieb seiner Frau schneller die Tränen in die Augen als die Erinnerung daran, dass ihr Kind nicht gänzlich normal war.
Zugegeben, es war eine harte Lektion die er seinem Kind zumutete, aber sie war notwendig. Überlebenswichtig. Wäre Lionel ein Erwachsener gewesen, Kyron hätte nicht gezaudert die Reitgerte einzusetzen um die Lektion nicht nur in den Kopf sondern auch den Leib zu prügeln. Gefühle töteten. Hexer töteten. Daran führte kein Weg vorbei, keine Abkürzung, kein noch so guter Wille. Das weichste Herz, die wohlste Gesinnung, konnten das Feuer des Abyss, den Rausch der Korruption, nicht fernhalten. Weiche Herzen mussten mit Absicht, Berechnung und ruhiger Entschlossenheit gebrochen und gehärtet werden, bevor es ein unglücklicher Streit oder ein plötzlicher Schrecken im schlechtesten Moment tun konnte. Mitleid mit seinem Sohn würde früher oder später zu einer toten Ehefrau oder einer entstellten Tochter führen, und was dann? Wie sollte er seinem Kind dann erklären, dass er nicht früher etwas unternommen hatte?
An den Ausläufern des Hofes angekommen warf Kyron einen Blick um sich. Der einstündige Heimweg hätte Lionel eigentlich genügend Zeit geben sollen um sich wieder zu fassen, aber von dem Jungen war keine Spur zu sehen. Nicht dass es eine Rolle spielte, inzwischen konnte Lionel sich zuverlässig gegen kleinere Angriffe wehren. Dennoch, die verdächtige Abwesenheit seines Sohnes bedeutete, dass er aufgewühlter war als Kyron erwartet hatte. Und dass er ihn suchen müssen würde, bevor Cahira bemerkte dass er ohne das Kind zurückgekehrt war.
Er lud die tote Ziege in den Händen des Kindermädchens ab, schöpfte etwas eisiges Wasser aus einem Regenfass um seinen Durst zu löschen, und wandte sich seufzend wieder dem Wald zu. Er würde Lionel finden und beruhigen müssen, bevor er Abends zu seinem Treffen mit der Natter aufbrach. Ihn daran erinnern müssen, wie wichtig es war dass Cahira nichts von den Lektionen unter den alten Thalwaldbuchen erfuhr. Dass er sich zusammenreißen und die Tränen und Trauer aus dem Gesicht wischen musste, damit keine weiteren Unglücke passierten. Die Aussicht auf dieses Gespräch, mehr als alles andere an diesem Tag, hinterließ einen fahlen Geschmack auf seiner Zunge. Und die Frage, wie dieser Tag sich wohl angefühlt hätte, wäre er nicht zerbrochen.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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