Die Saat des Irrtums
#22
Das war mir eine schwere Nacht,
Das war ein Traum von langer Dauer;
welch weiten Weg hab ich gemacht
Durch alle Schrecken, alle Schauer!

Der Traum, er führt' mich an der Hand,
Wie den Aeneas die Sibylle,
Durch ein avernisch dunkles Land,
Durch aller Schreckgestalten Fülle.

Was hilft es, daß die Glocke rief
Und mich geweckt zum goldnen Tage,
Wenn ich im Innern heimlich tief
Solch eine Hölle in mir trage.

~ Ludwig Uhland (1787 - 1862)


Es ist Morgen, Julmorgen. Schnee liegt auf den Bäumen, den Gräsern, dem Dach, verschluckt die unbeweidete Wiese vor dem Fenster und scheint hell im bewölkten Halbdunkel. Genauso gut könnte es Nacht sein, der Winter frisst das Licht wie der Sommer die Feuchtigkeit. Der große, kupferne Kessel in der Küche blubbert fröhlich, ein bauchig-wohltönendes Geräusch wie das Schlagen eines alten, feinpolierten Gongs. Die Luft ist erfüllt mit dem Geruch nach Kürbis, gerösteten Zwiebeln und Gebratenem, aber er weiß dass das Fleisch nach dem Anrösten in den Kessel wanderte. Eintopf, vollmundig und kräftig, um die Winterkälte aus den Knochen zu treiben und den Geist auf das Ahnengedenken und das Insichgehen vorzubereiten. Hunger würde die Gedanken nur ablenken davon, und dieser Eintopf wird für Stunden füllen. Nicht dass dies das einzige Festmahl für den Julmond-Abend wäre. Der eisenhaltige Duft von Blutwurst und in caramellisierten Zwiebeln gerösteter Leber mischt sich unter die Dämpfe, legt sich wie eine appetitanregende Schicht auf den Duft nach frischem, heißem, knusprigem Brot und übertüncht fast den deutlich milderen, zarteren Geruch nach Grießpudding und Apfelkompott. 
Er weiß schon beim Eintreten, dass dies nicht sein Heim ist. Es sieht aus wie sein Heim, die Möbel sind die selben, er weiß auch dass er an den richtigen Ort ging, aber dies ist nicht der Ort an dem er zuhause ist. Cahira rührt summend im Kessel, wiegt die Hüften zu ihrer selbstgeschaffenen Melodie und tunkt den Finger in die Sauce, die in einer Pfanne neben ihr auf der Küchenanrichte auskühlt. Das Summen stoppt kurz, als sie ihren Finger ableckt und einen Genusslaut ausstößt, dann setzt es wieder ein. Emsig und wie in einem Tanz den nur Mütter kennen bewegt sie sich zwischen Topf, Tisch und Küchenanrichte herum, schichtet hier um, schneidet dort klein, zieht wo anders Teller aus dem Regal, und wendet sich erst zum Eingang, als er näher tritt.
Ihre Schürze ist blutig, befleckt mit den typischen Küchenspuren, ein paar getrocknete Kräuter haben sich an ihrer Wange verfangen und bröseln herab als sie ihm entgegen lächelt. "Da bist du ja!" ruft sie glücklich aus und wippt den Kopf zur Seite, die schiere Perfektion ihrer Schönheit unterbrechend um die darunter liegende Perfektion ihres Wesens heraus zu lassen. "Ich dachte schon du würdest zu spät kommen, was hat dich so lange aufgehalten?"
Irgendwo im Hintergrund weint Brynja auf, ein kurzes, unglückliches, etwas heiseres Aufbäumen, das rasch wieder der hörbaren Erschöpfung unterliegt und erlischt.
Die Haut an seinem Rücken ist das Erste, das auf die aufwallende Angst reagiert und sich zusammenzieht, Gänsehaut über seine Schultern und den Nacken schickend. "Ich war im Dienst," spricht er lahm. Eigentlich würde er gerne etwas anderes sagen, aber andere Worte fühlen sich unpassend an, als sei das hier vorgesehen und könne keinem anderen Pfad folgen. Der Geruch des Festmahls klebt sich wie Teer an seinen Gaumen.
"Ich wäre dich holen gekommen, wärst du nicht bald erschienen," spricht Cahira mit scherzendem Tadel in der Stimme. Ihre Augen glänzen zu hell, ihr Lächeln ist zu breit, zu ausdauernd. "Am Julmond sollte die Familie zusammen sein. Umso enger, umso besser. Nun setz dich, setz dich!" Sie wedelt mit einer Hand gen' Tisch und wendet sich gleichzeitig wieder ihren Vorbereitungen zu.
Brynja wimmert erneut, leise und heiser, irgendwo oben.
Stirnrunzelnd wendet er sich vom Tisch ab, ignoriert den Befehl sich zu setzen und erklimmt die Leiter, um das Kind aus dem Gitterbett zu holen. So klein sie ist, sie stinkt zum Himmel, die Windeln durchweicht, das Gesicht verquollen und gerötet von den Mühen des vergangenen Weinens, und kaum dass er sie hochhebt, da beginnt sie ihrem Leid einmal mehr Ausdruck zu verleihen. Erst eine gründliche Reinigung, neue Windeln und die Ruhe in des Vaters Arm können ihrem Elend Einhalt gebieten, also nimmt er sie mit hinab, wiegt sie und wirft Cahira einen schiefen Blick zu.
"Hast du sie nicht gehört?" fragt er die Beschürzte mit leichtem Tadel, der im Gegensatz zu dem ihrigen zuvor nicht im Scherz gemeint ist.
Cahira sieht kurz über die Schulter, betrachtet das schnupfende Bündel in seinem Arm und zuckt die Schulter. Ihre Augen huschen zu seinem Gesicht hoch und sie zuckt die Schultern erneut, während ihr Lächeln milder wird. "Wen denn?"
Ein Knoten bildet sich in seinem Bauch, aber auch in diesem Moment scheint er nicht sprechen zu können was ihm auf der Zunge liegt. Er setzt sich, wiegt das Kind bis es dem Erschöpfungsschlaf anheim fällt, und beobachtet Cahira dabei, wie sie in ernsthafter Prozession einen Topf nach dem anderen zum Tisch trägt, summend, mit leerem Blick, mit standhaftem, reglosem Lächeln.
Erst in diesem Moment fällt es ihm auf.
"Cahira, wo ist Lionel?"

Der Traum reißt ab.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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