Die Saat des Irrtums
#19
Die Nacht trug die erste Note von Winter und Kälte, Nebel und den feinen Geschmack von kaltem Ruß und Eisen. Nicht kalt genug für Frost, jedoch kalt genug für klammes Zittern und die davon gefolgten Anfälle von Lungenfäule und Husten. Selbst die Rappstute unter seinen Schenkeln hielt sich verspannt und unwohl, missgestimmt von der langen Ruhe und der Kühle, die an den geschorenen Flanken durch ihr Fleisch drang. Des Reiters Aufmerksamkeit lag jedoch an einem anderen Ort, fern den Launen seines Rosses.
Allem Anschein nach waren nicht alle Flüchtlinge in die Stadt gelassen worden, oder aber einige von ihnen hatten sich dazu entschlossen, lieber die Vertrautheit des verwilderten Turnierplatzes für sich zu beanspruchen, statt in die dreckigen, verwinkelten und beengten Gassen Löwensteins zu ziehen. Früher oder später würde der junge Frost auch sie näher zusammentreiben, rund um ihre Feuer, unter Dach wo ein solches zur Verfügung stand, dicht gedrängt um Körperwärme gegen den bitteren Wintereinbruch zu teilen. Noch aber schienen sie versprengt und verteilt wie eine grasende Lämmerherde, verhärmt und verschreckt, zu neu in der Stadt, um alle Facetten der Einwohner kennengelernt zu haben. Einige Augen waren ihm gefolgt, voller Misstrauen darauf bedacht, was ein Gerüsteter auf einem Rappen in ihrer Nähe wohl treiben mochte, während andere ihn wohl schon bei einem seiner früheren Ausflüge bemerkt hatten und ihm nur kurze Blicke schenkten. Es war der dritte Dämmerungsritt durch die Ausläufer Löwensteins, und wie bei seinen vorher gegangenen Ausflügen verteilte er auch dieses Mal wieder billige Wollüberwürfe und kleine Säcke von Mehl, die er aus Cahira's Verkaufslager stibitzt hatte. Früher oder später würden die Flüchtlinge sich an seinen Anblick gewöhnen, die Scheu ablegen, ihm Vertrauen schenken. Kyron war kein Novize in der Jagd.
Und Menschen waren nicht anders als Jagdwild.
Nirgendwo verharrte er zu lange, nirgendwo wechselte er mehr als ein paar Worte, verwies bei Nachfragen nebulös darauf, dass auch ihm einst geholfen worden war und solcherlei weiter gegeben werden sollte, und stieg für einen Moment gar von seiner Stute, um einer Frau mit ihrer Ziege zu helfen, deren Euter heiß und entzunden war seitdem sie das Zicklein verkocht hatte.
Dann verließ er die Flüchtlinge so wie er gekommen war: Kommentarlos und ohne Abschied, ohne ein Wort über Ravinsthal oder die Götter zu verlieren, und ohne einen Blick zurück.

Erst vor der Stadt, draußen im Bauernwald, gab er seinem fröstelnden Ross die Fersen, steuerte es durch die Finsternis des herbstlichen Waldes und stoppte nicht einmal, um den Spähern der stolzen Männer den Wegzoll zu überreichen - er warf den Beutel, wie er ihn schon zuvor geworfen hatte, und verschwand ins Dickicht des Flüsterwalds, stets gen' Osten strebend, wo das Gebirge bereits verräterisch still aufragte, und das Meer gegen steile Klippen rauschte.
Ein Schatten trat aus dem Schatten eines Baumes und brachte sein Pferd zum Scheuen, bevor er es zügeln und zurück an seinen Platz lenken konnte. Seine Rippen zogen sich unter der alten Angst hart zusammen, seine Lippen verweigerten sich der Emotion jedoch und schoben sich zu einem scharfkantigen Halblächeln zusammen.
"Vier, vielleicht fünf Runden noch, dann können wir beginnen," teilte er dem Schatten desinteressiert mit, während die Stute hart schnaubend in den Nachtwind witterte.
Der Schatten schmolz einmal mehr zwischen die Bäume und Kyron trieb sein Pferd an, auf den Pass zu. Die Stute schien nur zu erleichtert darüber, aus der Finsternis des Waldes zu entkommen und trottete bald wieder leichtfüßig den schmalen Pfad entlang.
Der Zug um Kyrons Brust jedoch hielt sich länger.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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