Die Saat des Irrtums
#15
O heischt nicht, daß man kühl und achtsam
im Grenzbild seiner Kräfte lebt
und daß man niemals unbedachtsam
das eigene Können überstrebt.
Der Selbstvergrößerung Rausch und Wonne
erhält lebendig mich und dich -
denn jeder braucht wie Luft und Sonne,
den Aberglauben an sein Ich.

Oscar Blumenthal (1852 - 1917)


Es war mehr das Fehlen eines Hahnenrufs, das Kyron mit einem kehligen Atemzug aus der Bettstatt schrecken ließ. Sein Leib strafte die Bewegung mit einem scharfen, wehleidigen Ziehen an der Brust, das sich nach einem argwöhnischen Blick unter das Hemd als frisch genähter Schnitt herausstellte. Mit einem ausgedörrten Grollen ließ er sich zurück aufs Bett fallen, das sich als Fellhaufen herausstellte. Nicht sein Bett. Nicht sein Haus. Nicht der Geruch nach seiner Frau, der an den Fellen hing wie ein böser Traum.
Ächzend rieb Kyron sich das Gesicht, teils um die aufwallende Sorge zu vertreiben, teils um zu überprüfen, ob wenigstens das noch in einem Stück war. Kein Schmerz an Kiefer, Lippen oder Brauenknochen, demnach war er also nicht in eine Schlägerei geraten. Isabelle hatte ihr Wort gehalten, zumindest in dieser Hinsicht. Und auch in anderer Hinsicht, wie er mit einem Zurückschlagen der Felle feststellte - seine Hose war wo sie gestern gewesen war, unangenehm nach einer Nacht leichenähnlichen Tiefschlafs, aber unverändert.
Wie kleine Blitze zuckten Ausschnitte, Visionen, Erinnerungen an den Vorabend durch seinen Geist, trübten den öden Anblick der Zimmerdecke über ihm mit ihren konfusen, verschwommenen Trugbildern und ließen ihn unwohl die Zähne blecken. Der Geruch von vergossenem Laudanum hing an seinem Hemd, verstärkte das sachte Zittern der linken, schmerzenden Hand noch. Gier nach nostalgischen Erinnerungen plagte ihn mehr als tatsächliche Gier, aber für seinen Leib schien dieser kleine, feine Unterschied nicht zu existieren. Selbst wenn die Flecken bereits angetrocknet waren, er konnte doch immer noch den Stoff besaugen, vielleicht ließ sich so noch der eine oder andere Tropfen lösen?
Wider des ziehenden Schmerzes im genähten Schnitt an seiner Brust war Kyron in einem Herzschlag auf den Beinen, riss sich das Hemd vom Leib und warf es mit mehr Zorn als Effizienz durch die kleine Schlafkoje.
So Vieles an dem hier ist falsch, so vieles unaussprechlich... was habe ich getan?
Einen Befehl ignoriert, das hatte er getan. Zumindest war es kein gebrochenes Versprechen, denn das wäre unerträglich gewesen. Aber einen Befehl zu brechen... das ließ sich beheben, ganz einfach sogar. Er musste nur dem Laudanum fern bleiben. Vielleicht auch dem Alkohol, auch wenn beides gleichzeitig potenziell zuviel der Wiedergutmachung war, und nur noch tiefer in den Abgrund führen würde. Vor allem wenn man bedachte, dass all dies durch die Erhebung eines Theophyten überhaupt erst entstanden war.
Die Erinnerung hatte um nichts an Schärfe und Schnittfreudigkeit verloren. Der eine Gedanke war genug, um die Wunde erneut bluten zu lassen, genug, um den selben Zorn wie am Vorabend einmal mehr aufsteigen zu fühlen. In seinem Windschatten folgten allerdings erneut die Erinnerungen des Meisters, die milden Worte, die nicht ausgesprochene Drohung, und hierauf die alte Hilflosigkeit und die Erinnerung daran, wie er all das verschwinden lassen konnte.
Es kann alles fort gehen. Du kannst dir helfen, du hast dir früher geholfen, wisperte die alte Kopfstimme, die so lange still und unwillig gewesen war. Der Geruch nach Schnee, Asche, Ruß, die Kopfnote von Blut und abgeriebenem Blech, dazu der Geruch des gepflegten Leders, das die Elster damals getragen hatte. Das Prickeln auf den Fingerspitzen, das an die harschen Kontraste zwischen rauhreifbedeckten Schulterplatten und der geradezu glühend heißen Haut unter der Rüstung erinnerte. Das Grau von Steinplatten, bedeckt von gefrorenem Matsch, gesplittert wo die schweren Stiefel das Eis zerschmettert hatten. Und unter all dem die immerglimmende Flamme des wärmenden Rausches, die zarte, unzerstörbare Decke des berauschten Gleichmuts, das erhebende, leichte Gefühl von Einssein...

Kyrons Augen fanden zurück zu dem verdreckten Hemd, zu den schwarzbraunen Blutstropfen daran, den helleren Flecken eingetrockneten Laudanums, und kämmte sich mit einer unwilligen Geste die struppigen Zöpfe aus dem Gesicht. Du weißt, wohin dieser Pfad führt, wisperte eine andere Stimme in ihm und ließ ihn unwillig die Zähne blecken. Nun begannen sogar schon seine Gedanken an ihm herum zu zerren, ihn hierhin und dahin zu schubsen, als sei er ein ungezogenes Kind!
Mit einem wenig zivilisierten Schnarren rupfte er das Hemd von dem Holzspan, an dem es sich verfangen hatte, zog es sich mit ähnlich ruppigen Bewegungen wieder über. Anfang und Ende lagen in den Versprechen, die er sich schon als Jüngling gemacht hatte. In dem Buch, dessen Einband kaum mehr zusammenhielt. In den Maximen, die ihn leiten sollten, wenn es schon sein Gewissen nicht konnte. Er hatte viel zu lange auf andere Stimmen gehört. War viel zu lange das gewesen, was andere von ihm erwartet hatten. Loyalität. Worttreue. Standhaftigkeit. Ehre. Respekt. Das waren die einzigen Tugenden, an die er sich zu halten hatte, und in den Abyss mit dem was andere von ihm forderten!

Der Entschluss sandte kaltheißes Prickeln über seinen vernarbten Rücken, ganz so als würde seine Haut sich strecken, lockern, ihm mehr Platz im eigenen Leib einräumen. Als würden Joch und Zuggeschirr von ihm abfallen, Platz machen für gesträubtes Nackenfell, gefletschte Zähne und alte Launen.
Ein kurzes Ausschütteln von Isabelles Schlaffellen brachte die Laudanumphiole zum Vorschein, kaum mehr als ein Schluck schwappte noch durch das kleine Glasgefäß. Kyron hob es auf und schob es sich mit glatter Miene in die Gürteltasche. Die Taverne lag still und leer im bewölkten Morgenlicht. Isabelle war nirgendwo zu finden, wohl einmal mehr auf dem Weg zu ihren neuen Freunden. Der Gedanke trieb ein hohles Lächeln auf seine Züge. Vielleicht war es doch Zeit, alte Schleichwege wieder in Anspruch zu nehmen, sich Löwenstein wieder einmal von Innen anzusehen? Isabelle würde sich doch sicher freuen. Wie es die anderen Armenviertler sahen, war eine andere Frage. Eine, die man notfalls mit Fäusten beantworten konnte, seine letzte Keilerei war schon viel zu lange her.
Mit einem letzten Rollen des Kopfes und begleitet vom Knacken seiner steifen Nackenwirbel trat Kyron in die Morgenkälte.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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