Die Saat des Irrtums
#17
Es mordete der Wolf ein Lamm.
Der Fuchs sah lachend zu, als es im Blute schwamm,
Und war ganz freudenvoll darüber.
Kann dich ein blutger Auftritt freun?
Frug mitleidsvoll der Hirsch.
"Hirsch, sprach der Fuchs, halt ein!
Sehr viele Menschen sehn nichts lieber,
Und ich will den Menschen ähnlich sein!"
Ihr könntet Blut mit Freuden sehn,
Ihr Menschen? Eurer Brüder Blut?
O nein, so weit muß euer Heldenmut
Und eure Tyrannei nicht gehn!
Baut euch durch Menschlichkeit Trophäen!


Ich will dem Menschen ähnlich sein - Gottlob Wilhelm Burmann (1737 - 1805)

Das Scharren von Salzkörnern über Steinboden erfüllte den Verschlag seit Stunden, lange genug um Kyron inzwischen durch Mark und Bein zu gehen. Ein so leiser Laut konnte durchdringender als ein Schrei werden, wenn man ihn lange genug dulden musste. Anfangs hatte die Stimme des Meisters ihn noch zusammenfahren lassen, aber mit dem Verlauf der Nacht war aus dem Schrecken eine ersehnte Ablenkung vom Mahlen der Körner geworden.

"Was weißt du über das Versagen?"
"Die einzige Antwort auf Versagen ist der Tod."

Der Sessel des Meisters knarrte als dieser sein skelettales Gewicht verlagerte. Der Laut ließ Kyron die Augen schließen, stumm beten dass der Meister nicht erneut aufstand um etwas aus einem anderen Teil des Verschlages zu holen, inbrünstig - wenn auch tonlos - flehen, dass seine Schritte ihn nicht erneut quer über das kunstvolle Muster aus Salz führen würden, wo er immer noch den letzten gelassenen Marsch mit spitzen Fingern aus der Spirale tilgte. Aber er erhob sich nicht, und da war kein Brennen in Kyrons Nacken, das auf einen weiteren prüfenden Blick schließen hätte lassen.

"Warum lebst du also noch?"
"Weil ich vom Weg abgekommen bin, aber noch nicht versagt habe."

Die Antwort kam ihm zunehmend leicht über die Lippen, auch wenn er die ersten Male noch dagegen protestiert hatte. Es musste die Nachtkälte sein, oder die Erschöpfung, vielleicht auch die eintönige Arbeit, aber die Wiederholungen der Fragen hatten ihn langsam und stetig zu dem Punkt abgerieben, an dem in seinem Kopf kaum noch etwas außer weiter Leere zu finden war. Leere ließ vergessen und bereuen. Leere machte die Glieder schwer und den Geist verloren. Leere war leicht zu füllen, wenn ein Mann am Boden war. 
Der kleine Haufen von zarten Scherben vor seinen Knien war ein stetiger Spott, eine Erinnerung daran, dass das was er gerade empfand noch keine wahre Erschöpfung sein konnte, durfte. Erschöpfung, Versagen und Tod würden sich an einem Punkt nämlich die Hand geben, und nur sein hartnäckiger Wille konnte diesen Moment hinaus zögern und in die Ferne schieben. Kyron machte sich keine Hoffnungen darauf, dass er die Aufgaben jemals zuende bringen können würde, und sie hinzuschmeißen stand außer Frage. Er würde dort zwischen Salz und Scherben knien bis seine Finger blutig waren und er der Ohnmacht anheim fiel, also versagte, oder aber der Meister ihn davon entband, und jedes Zucken seines Wangenmuskels, jedes Pausieren, jedes Fortsehen von dem selbstgeschaffenen Debakel verlängerte die Zeit, die er damit verbringen musste. Zumindest fühlte es sich so an.
Sein Wangenmuskel zuckte, bevor er etwas dagegen unternehmen konnte. 

"Was habe ich dich über den Pfad gelehrt, den du zu gehen hast?"
"Alles geschieht wie der bleiche Lord es vorsieht. Er ist meine einzige Rettung, und du mein Wegweiser auf der Irdischen, Meister."

Stille kehrte ein, nur durchbrochen vom andauernden, ununterbrochenen Scharren von Fingern über Salz, Salz über Stein, Stein über Haut. Anfangs hatte Kyron die Worte noch mit der Herzhaftigkeit und dem Engagement einer balzenden Spottdrossel wiederholt, aber das war vor Stunden gewesen, damals, als er noch mehr auf das präzise Nachplappern als auf das Meinen, Fühlen, Glauben konzentriert gewesen war. Inzwischen fehlte ihm die Energie für solcherlei Stimmmodulation, der Wille zum Mummenschanz, und der Glaube daran, dass der Meister einfach nur die Worte hören wollte. Der tiefere Sinn war wohl weniger, dass er den Meister durch Wiederholung überzeugte, sondern eher, dass jede Wiederholung die dahingesagten Worte tiefer in seinen Kopf fraß. Zu der Erkenntnis war er schon vor einer Weile gekommen und sie hatte ihn zögerlicher, unwilliger antworten lassen. Der Meister hatte sich von dem Zorn in seiner Stimme allerdings wenig beeindruckt gezeigt - er war einfach aufgestanden, gemächlich über die Spirale aus Salz und die Scherben zu einem Regal auf der anderen Seite des Verschlags spaziert, hatte dort ein Buch aus dem Stapel gezogen und war zu seinem Platz zurück gekehrt, während Kyron mit seinem unmäßigen Temperament gerungen hatte.
Nicht dass sein Zorn nun weniger war als zuvor. Da war nichts, niemand, der seinen stetigen Zorn jemals besänftigen können würde. Er hatte diese Rage schon zuvor recht gut unter Kontrolle gehabt, sie gemeistert wie einen temperamentvollen Hund, sie gezielt dort freigesetzt wo sie ein dankbares Ventil fand, aber der Meister hatte das einzigartige Talent, selbst die letzten, noch so kleinen Schwachstellen zu finden, hervor zu kitzeln, und ihn damit zu strangulieren.

"Ich werde deine Seele in Stücke schneiden. Ich werde dich töten. Und wenn es geschehen ist, wirst du spüren, welche Macht dein Zorn, dein Hass, deine Verachtung und dein Neid haben."

Schweigen. Welche Antwort die Korrekte auf diese Worte gewesen wäre, hatte Kyron schon lange zu suchen aufgegeben. Die Worte kamen in diversen Abwandlungen immer wieder einem Intermezzo gleich zwischen den Fragen, die ihn zurück auf den schmalen Pfad eichten, den der Meister für ihn vorgesehen hatte.
Der Sessel knarzte, der Meister erhob sich, und für einen Moment erblickte der Drang, die Hand fortzuziehen, den Marsch der Zerstörung durch das Gebilde abzuwarten, das Licht der Welt. Er erlosch genauso schnell wieder, und während er mit leerem Blick und müdem Geist weiter Salzkörner zurecht schob, da strich des Meisters Mantel über seinen nackten Arm, sein Stiefel verfehlte knapp die ordnende Hand, und Salz knirschte unter seiner Ferse, während er das Buch zurück ins Regal trug.

"Macht benötigt Kontrolle, Kyron. Du kennst deine Aufgabe. Führe sie aus oder versage."

Ein Moment der beiderseitigen Stille, dann trat der Meister den Rückweg an, setzte sich knarzend wieder in seinen Sessel und Kyron nahm die Arbeit wieder auf. Scharren, stetiges Scharren, nur unterbrochen von den sanften Worten des Meisters.

"Was weißt du über das Versagen?... "
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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