Die Saat des Irrtums
#12
Beschüttet mich mir eurem Haß und Spotte
Und scheltet und verdammt: ich trag' es gern;
Doch meiner Seele Heiligtum und ihrem Gotte,
Unfreundliche Bedränger, bleibet fern!

Ja, raubt sie mir, des Lebens schönste Stunden,
Zerstört, was ihr nicht kennt: ein heißes Glück;
Jedoch vor dem, was ich so wahr empfunden,
Verstummt und weicht gesenkten Blicks zurück!

Ich will sie freudig tragen, all die Schrecken,
Die mir gescheh'n nach eures Willen Lauf,
Doch wagt ihr's, lästernd meinen Zorn zu wecken:
Erbebt! denn mit ihm steht die Rache auf!


Zorn - Therese Dahn (1845 - 1929)

Eisig war der Regen, wie er auf die Planen und Strohdächer und die morschen Rindenschindeln des Armenviertels fiel, und gemischt mit dem Gestank von erstickenden Feuern, ungewaschenen Leibern und Unrat. Der kleine Unterstand im Norden des Armenviertels, komplett mit einem Gelagetisch und einem halbwegs dichten Überdach, hatte nur zu geringen Teilen den frühabendlichen Wutanfall überlebt, aber nun, mitten im Sonnenaufgang, in der stillsten Stunde des Tages, da reichte selbst ein klappriger Hocker als Ruheplatz.
Kyrons Atem bildete kleine, kalte Wolken in der eisigen Luft. Die Pfützen in den ausgetretenen Schlammwegen bildeten filigrane, feinste Eiskrusten, die den Sonnenaufgang nicht überleben würden. Der Wein in der bauchigen Glasflasche auf dem letzten noch aufrechten Tisch war vermutlich inzwischen ebenfalls kurz vor dem Vereisen, hatte der Mann doch seit seiner Ankunft keinen einzigen Schluck daraus getan. In wenigen Stunden, wenn die Sonne vollends über die bulligen Stadtmauern gekrochen war, würde der winterliche Spuk vorbei sein, und ein laues, klammes Lüftchen durch die Gassen wehen, aber jetzt, so früh am Tage, da rang noch der Nebel mit dem Frost um die Gunst.
Eigentlich hatte Kyron vor gehabt, der Welt den trotzig erhobenen Mittelfinger zu zeigen, sich mit dem Wein ad absurdum zu betrinken, und dann irgendwo zwischen Schlamm, faulendem Stroh und knisterndem Lagerfeuer ins Delirium zu versinken. Gut, vielleicht auch die eine oder andere Schlägerei anzuzetteln, zu sehen ob eine Verhaftung dabei heraus sprang, das übliche Programm wenn er mit der Welt unzufrieden war. Er hatte sogar die Flasche gekauft, den Korken heraus ziehen lassen und dann mehr lose und trinkfertig wieder in den Hals gesteckt, aber getrunken hatte er dann doch nicht.
Cahira brachte ihn dazu, trinken zu wollen. Nicht absichtlich natürlich, dazu war sie eine viel zu gute Person, aber all die Gutherzigkeit, der blinde Optimismus, der schiere Starrsinn, den sie im Angesichte einer unmöglichen Queste offenbarte, das war es, was ihn zur Flasche trieb.
Der Meister hingegen hatte ihm das Trinken einfach verboten, und prompt schien es, als wolle seine Hand dem Befehl, die Flasche zu packen und an die Lippen zu heben, einfach nicht mehr folgen. Keine Magie, kein Hauch von Fluch, nur die simple Unterlegenheit des Geistes. Es war so einfach, sich einem Stärkeren zu beugen, so befreiend, wie ein Rausch für sich.
Warum aber hatte er dann trotz des Verbots den Wein gekauft? Warum starrte er immer wieder zu der Flasche, im Geiste bereit dazu, sie endlich zu leeren, während nur der Körper untätig blieb? Lag es an dem Zusammenstoß, den der Meister und er mit Cahira gehabt hatten? Die Art, wie sie seiner neuen Familie gedroht hatte?
Sie musste doch wissen, wie Kyron auf Drohungen gegenüber den Seinen reagierte, immerhin hatte sie oft genug von dem aufwallenden Zorn profitiert, der sich über alle gesellschaftlichen und moralischen Grenzen hinweg auf Bedrohungen seiner Lieben ergoss. Er hatte sie so oft verteidigt, war so oft die metaphorischen Palaststufen hinauf gestürmt, um ohne Rücksicht auf sein eigenes Wohl Verheerung zu jenen zu tragen, die mit dem selben Gedanken seiner Familie gegenüber spielten. Und nun, keinen Atemzug nachdem Kyron erklärt hatte, dass der Meister und die Synodisten seine neue Familie waren, kam Cahira auf die Idee, ihnen zu drohen!
Es war ein köstlicher Zorn gewesen. Einer, der in den Ellenbeugen kribbelte, an den Rückseiten der Oberarme, an den Rippen. Als würden sich jene Muskeln und Gewebe zittrig anspannen, die direkt mit seinen Gefühlen in Verbindung standen. Die blinde Rage war ausgeblieben, dagegen hatte Kyron zu lange und zu erfolgreich unter der Weisung des Meisters angekämpft, aber auch das war nur Cahiras Schwangerschaft anzurechnen. Als er sie geschlagen hatte, da war das Bild ihrer Bauchgegend unangenehm aufdringlich durch seinen Verstand gehuscht, wieder, und wieder, und wieder, mit jedem Schlag verlockender.
Sie war gegangen, keinen Lidschlag zu früh. Er war kurz davor gewesen, der Verlockung zu folgen. Dem Balg ein Ende zu setzen.
Ja, dort lag wohl der Grund für den Weinkauf.
Ein Zucken ging durch seine Mundpartie, durch die nachtkalten Lippen, die eisige Nase, und eine Dunstwolke von faulendem Abfall wehte ihm ins Gesicht. Mit knarzenden Lederriemen lehnte er sich vor, packte die Weinflasche, und entkorkte sie. Die Erinnerung war stets schlimmer als der Moment, weniger mit Herzpochen gefüllt, weniger mit der Notwendigkeit, in einem Lidschlag Entscheidungen zu treffen, und dafür mehr mit der distanzierten Erkenntnis dessen, was sich tatsächlich zugetragen hatte. Es war den Wein wert. Es war die Missbilligung des Meisters wert.
Immerhin hat er ja gesagt, ich soll mehr auf meine Gefühle horchen.
Und der Meister... Oh, der Meister. Später am selben Abend hatte er wie nebenbei gezeigt, warum Kyron recht damit getan hatte, ihn mit weichen Knien und stiller Verehrung zu begleiten. Der rote Plagengeist der Mithraskirche, jener, der ihn immer und immer wieder in wortreiche Fallen lockte, ihm Dinge aus den Lippen stibitzte, die Kyron niemals sagen hatte wollen, war vor seinen Augen unter der Wucht des Geistes seines Meisters zerquetscht worden. Kein Gefecht, kein Blut, keine Gefahr, nur das Messen zweier Willen, und der stille, unausgesprochene Sieg des Dunklen. Noch während sie zurück in die Stadt gegangen waren, da hatte Kyron dem Zittern in seinem Zwerchfell gelauscht, dem eisigen Schauder an seinem Rückgrat, der Gänsehaut auf seinen Schulterblättern, während er dem Präzentor mit devot hängendem Kopf und fest geschlossenen Lippen gefolgt war.
In der Zeit, die anderthalb Fackeln zum Ausbrennen benötigten, hatte der Meister mit spielender Leichtigkeit das getan, was Kyron unmöglich schien. Und Kyron hatte zugesehen, und mit erschlagenem Neid festgestellt, dass er vermutlich niemals eine ähnliche Größe erreichen würde, eine ähnliche Stärke.
Muskeln waren eine grobe Waffe, eine Keule auf dem Parkett der Möglichkeiten. Rüstung, Schwert, Schild, nichts davon half gegen jene Waffen, die tief in die Seele schnitten, und keine Taktik konnte dagegen Abhilfe schaffen. Keine Taktik, nur ein starker Geist.
Ein starker Geist war etwas, das Kyron nicht hatte.
Warum also den Wein nicht leeren?
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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