Die Saat des Irrtums
#16
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.


Das ist die Sehnsucht - Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

Im Spiegelbild des Wasserzubers sahen die langen, knotigen Haare noch schlimmer aus, als sie es in einem richtigen Spiegel getan hatten. Früher hatte Kyron sie noch mit einer Bürste, oder im Notfall den Fingern, zumindest alle zwei Tage einmal gebändigt, aber die Zeiten waren vorbei. Die Zöpfe gaben seinem Kopf zwar den Anschein von halbherziger Aufgeräumtheit, aber auch sie wollten neu geflochten und gewaschen werden, und auch sie schienen unwillig, sich seinem Willen zu unterwerfen. Er hatte es nie geschafft, den selben aufgeräumten, militärischen Eindruck zu erwecken, den andere Soldaten beherrschten, wie zum Beispiel Cois, oder Cahira. Selbst Kordian hatte mit Dreck und Blut bespritzt noch ansehnlicher ausgesehen als Kyron nach drei Stunden im Waschraum. So sehr er sich bemüht hatte, immer war doch noch ein Haar abgestanden, der Scheitel verrutscht, Barthaare an den Wangen wie Tasthaare eines alten, fetten Katers abgestanden, oder Flecken hatten sich auf gar magische Art auf seinem Wappenrock oder der Schärpe gebildet.
Neid. Das war es, was er empfunden hatte. Bohrenden, tiefen Neid.
Jetzt aber empfand er nur müde Reizung, wenn er sich so sah. Seine Versuche hatte er schon lange aufgegeben, aber bisher war er zu einer größeren Änderung seines Aussehens einfach zu müde gewesen, hatte den Sinn darin nicht gesehen. Im Wasser nun sah er, dass er auch dessen müde geworden war. Rahel und ihre Vorliebe für lange Haare in ihren Streitern waren schon lange nicht mehr, und wenn er es nüchtern betrachtete, störten die langen Haare ihn im Kampf eher.
Liebe war genauso wenig genug gewesen, wie es Loyalität gewesen war, oder Treue, oder Standhaftigkeit. Nichts davon konnte ihn wahrlich zu einem Anderen machen, nichts davon konnte die Vergangenheit ändern. Was sich mit Weigori vor sechs Jahren zugetragen hatte, das trug sich erneut zu, und dieses Mal war von einem strahlenden Paladin weit und breit kein Zeichen zu sehen. Wer das selbe Dilemma wieder und wieder erlebte, der hatte sich zu fragen, ob es nicht an der Zeit war, die Schuld nicht mehr bei anderen, sondern bei sich selbst zu suchen. Cahira konnte dabei nicht helfen, denn sie war einer der Faktoren, die ihn überhaupt erst in diesen Strudel geschickt hatten. 
Er würde sich die Haare schneiden lassen. Den Beschluss schob er bereits seit einer Weile vor sich her, aber nun gab es einen Grund. Und sich tätowieren lassen, fügte er im Geiste an seine Überlegung an. Etwas ins Gesicht, etwas, das als visuelle Unterstützung des Wissens dienen konnte, dass er einem neuen Pfad folgte. Früher hatte er in einen Spiegel geblickt, um sich zu versichern dass er noch er selbst war, dass er sich nicht geändert hatte, und der bleiche Lord deshalb keine so allumfassende Macht über ihn haben konnte. Es war die Erinnerung daran, an jene Momente der Selbstsuche, die ihn nun davon überzeugten, dass er etwas Sichtbares an sich ändern musste, um nicht wieder in alte Muster zurück zu verfallen. Das Brandmal auf seiner Stirn würde dazu nicht ausreichen, denn es war das Zeichen des Feindes beider Wege, und rief höchstens Wut und Abscheu hervor, wenn er es anblickte.
Und etwas Unsichtbares ebenso. Der Auftritt des neuen Theophyten hatte so Vieles vereinfacht, Abläufe verbessert, Wogen geglättet, Bewegung gebracht, dass ein weiterer Anfall von Neid unvermeidlich geworden war. Kordians Wiederkehr und Eintritt in die Garde hatte dasselbe dort verursacht, Gutes getan für die Präsenz und Einsatzbereitschaft der Gardisten. Und Cahira war aufgestiegen in den Adel, hatte neue Ziele und Aufgaben, ein größeres Feld an Möglichkeiten, neue Freunde.
Wohin Kyron auch blickte, jemand anders war bereits dort und tat was er sich mühsam erkämpfen hatte müssen besser, effizienter, zuverlässiger und leichter, und Neid fraß sich bis an sein Knochenmark. Eine böse Stimme flüsterte ihm zu, dass er jene absägen sollte, die ihn überholten, dass er nur an der Spitze sein konnte, wenn die Konkurrenz blutend am Boden lag, aber er schenkte der Stimme keine Aufmerksamkeit mehr. Eine andere Stimme flüsterte ängstlich vom Zorn seines Meisters, wie groß und unstillbar er sein würde, wenn Kyron tat was er tat, ohne es durch dessen Hand zu tun, aber auch jene Stimme drückte er zurück in die Tiefen, ließ sie verstummen mit dem sicheren Wissen, dass er handeln musste statt zu bitten, wenn er sich seine eigene Nische aus der Welt schneiden wollte.
Eine dritte, leisere Stimme flüsterte von gebrochenen Brücken, aber jene Stimme musste er nicht mehr ruhig stellen, denn sie verhallte bevor sie Fuß fassen konnte. Diese dritte Stimme hatte zu oft, zu fruchtlos, zu weinerlich gesprochen, und er hatte ihr zu oft zugehört um ihr jetzt noch zu glauben.
Nein, er hatte einen Plan. Etwas, das er noch nie getan hatte, etwas, das keiner von ihm erwarten würde, und etwas das er auch keinem verraten würde. Es gab nur einen Mann, der ihm dabei helfen konnte, und diesen hatte er lange genug beobachten können, um ihn halbwegs einzuschätzen. Er würde ihn nicht verraten, er würde keine überflüssigen Fragen stellen, und er würde nicht mit ihrem Tun hausieren gehen. Zumindest nicht, wenn Kyron ihn rechtzeitig und ausreichend davon überzeugen konnte, dass sein Weg der richtige Weg war. Keine leichte Aufgabe, aber immer noch leichter, als den Mann in Rot alleine zu erwischen. 
Kyron tauchte beide Hände in das kalte Zuberwasser und zog sie ein letztes Mal über die zerrupfte Haarpracht, dann drückte er sich hoch, schmal auflächelnd. Wenn er etwas hatte, dann starrsinnige Geduld. Zeit für Dummheiten!
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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