Die Saat des Irrtums
#2
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Die nackten Toten die sollen eins
Mit dem Mann im Wind und im Westmond sein;
Blankbeinig und bar des blanken Gebeins
Ruht ihr Arm und ihr Fuß auf Sternenlicht.
Wenn sie irr werden solln sie die Wahrheit sehn,
Wenn sie sinken ins Meer solln sie auferstehn.
Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht;
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.


~ Dylan Thomas, And death shall have no Dominion
Quelle: New English Weekly, 1933 (Übersetzung: Erich Fried)

Manch ein Mann beging sein Leben in trauter Ignoranz darüber, warum er manchen Menschen leiden mochte, und einen anderen nicht. Es mussten glückliche Männer sein, die so leben konnten, bedachte man welch Elend das stetige Denken und im Kreise Drehen der Gedanken so mit sich brachte.
Kyron stieß auf und schniefte missmutig gegen den vergorenen Geschmack von Bier mit einer Prise Kornbrand. Besser als Brocken zu speien, etwas das zu seiner Laune sehr gut gepasst hätte, nicht aber zu seinem bevorzugten Geschmack im Mund. Nein, noch mehr Freitagserbrochenes war nicht erstrebenswert. Hätte er Lawin doch nur das Gesicht verdellt, wie er es sich gewunschen hatte, dann müsste er nun nicht im Wald an einen Baum gelehnt sitzen, und hoffen dass sein Rausch verging bevor die Sonne - das elende Biest - aufging und die Welt einmal mehr in einen Hochofen der Höllenhitze verwandelte.
Ja, Männer die nicht wussten warum sie jemanden nicht ertragen mochten, hatten ein glücklicheres Leben. Vielleicht hatten alle Menschen, die das verdammte Buch in seinem Gepäck nicht gelesen hatten, ein glücklicheres Leben, wer vermochte das schon zu sagen? Seit er es wieder aufgeschlagen hatte, sprangen die Zeilen der Belehrung in den unpassendsten Momenten in seinen Kopf, und machten es ihm unmöglich, menschliche Unzulänglichkeiten zu ignorieren. Da ist kein Stein in einem Wort, und kein loses Geröll im Angesichte eines Mächtigen.

Eine Spinne kroch über die brüchige, pockennarbige Borke der Eiche, verhedderte ihren Spinnfaden in Kyrons ungekämmtem Haar, und ließ sich mit aller insektischer Eleganz von einer Strähne, um vor seinem Auge hin und her zu baumeln, während sie ihr Gepäck neu sortierte.
Lawin. Der Mann hatte sich das ungesündeste Kommentar zur unpassendsten Zeit ausgesucht, soviel war sicher. Nicht nur, dass Belshira ihr versoffenes Gesicht just an diesem Abend wieder gezeigt hatte, nein, auch Isabelle war da gewesen, und sie alle drei hatten zuvor den liebevollen Hass des Meisters zu spüren bekommen. Der Hass des Meisters war der sicherste Weg dazu, Kyron aufgekratzt und reizbar zu hinterlassen, und dann war da noch Marek gewesen, der sich erstaunlich nahtlos in die kleine Gesellschaft eingefügt hatte. Bah. Wie ein Freund war er gewesen, fast unglaublich. Kyron und Freunde, pah. Oder besser noch, Marek und Freunde - beinahe so lachhaft. Und dann hatte Lawin diesen einen, bissigen Kommentar geschoben. Über Knien und Winseln. Die Worte hatten alle Hebel in Kyrons hysterischem Verstand umgelegt, und im nächsten Moment waren Fäuste geflogen. Zwar keine zielgenauen, und keine effektiven, aber Fäuste.
So war das mit Männern, die nicht wussten was eine Tugend war. Ein gebeugtes Knie ist kein gebrochenes Glied, ein verlorener Kampf kein verlorenes Gesicht, und kein Zorn im Herzen genügend Rechtfertigung dafür, die Haltung zu verlieren.
Beinahe hätte Kyron aufgelacht, aber bereits der erste Windstoß brachte die kleine Spinne zum Schwingen, und sie schlug gegen seinen trägen Augapfel und ließ ihn zucken. Zu klein um ihn zu beißen, glücklicherweise. Nicht zu klein, um im Mondlicht zornig in seinen Wimpern zu zappeln, unglücklicherweise. Eine ungezielte, volltrunkene Ohrfeige ins eigene Gesicht - die eigentlich ein Fortwischen sein hätte sollen - behob das nervositätsschürende Gezappel rasch.
Haltung. Bah. Hatte er die Haltung verloren? Nicht wirklich, gemessen daran dass er eigentlich berauscht gewesen war. Er war erstaunlich aufrecht gestanden, eine Zierde für jeden Seefahrer oder Säufer. Aber das war es nicht, was Haltung aussagte, oder?
Ein dumpfes Pochen erklang in der stickig stillstehenden Nachtluft, als Kyron seinen Hinterkopf milde gegen den Baum schlug. Haltung, Haltung,... Was war es gleich gewesen? Irgendwas mit Demut, und Zorn, aber die Götter alleine wussten, wie der ganze Satz lautete.
"Meh," brummte Kyron, und grinste für einen Moment als die Erinnerung an Liam, den galatischen Fischer, in ihm hochkam. Liam hätte ihn für bescheuert erklärt, wie er da so neben dem eigenen Erbrochenen im Wald saß, zu besoffen um wach zu bleiben, zu verängstigt davor was seine Frau sagen würde, um heim zu kriechen. Liam war ein guter Mann.
Es war nicht kalt, und unbequem war der Baum auch nicht. Mit einem letzten Brummen schloss Kyron die Augen, und wie ein flüchtender Nachsatz schoss ihm die zuvor so unwillig gesuchte Zeile durch den Kopf. Ein Krieger fällt wie er siegt, mit Mäßigung, Demut und Stärke, und der Herrschaft über seinen Zorn, Neid und Stolz.

Hah. Er blieb eben doch ein Versager.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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