Die Saat des Irrtums
#1
Erinnerung gleicht einem Speicher;
Mit jedem Tag füllt er sich neu –
An Weizen leer, ist überreich er
Gar oft an inhaltsloser Spreu.
Um jede Thorheit fortzubringen,
Braucht' es der Säcke Legion –
Die Körnlein von gedieg'nen Dingen –
Die trüge leicht ein Spatz davon.


~Verfasser unbekannt
Quelle: Aus den »Fliegenden Blättern« (1845-1928)

Kyron betrachtete das abgegriffene, schartige Buch mit übermüdeten Augen und durch filzige, spreuverdreckte Strähnen. Er musste die Schrift nicht sehen um zu wissen wie der Titel lautete, und die abgeblätterte Prägung der Goldletter auf dem zerkratzten, verbleichten Leder hatte schon bessere Zeiten gesehen, als er das Buch vor mehr als zehn Jahren das erste Mal in die Hand genommen hatte. Es fühlte sich noch genauso an, wenn auch kleiner, als hätte sein jugendlicher Verstand sich jede Kurve, jeden Knick und jeden Riss eingeprägt, und selbst der Geruch nach Pferdeschweiß und Waffenöl am Einband war unverändert - wenn auch milder - geblieben.
Vielleicht hatte er deshalb auf dessen Existenz vergessen, weil er der schönen Idee auferlegen war, den Inhalt ins Herz übernommen zu haben. Doch nun, nun war er sich nicht mehr sicher, nicht unter dem Druck der tausenden zerfaserten Erinnerungen, die alleine das Gewicht des Wälzers in seiner Hand durch seinen Geist schickte.
Eine Böe, kaum heißer als die sowieso schon dürr-stickige Luft im Stall, fegte eine Wolke aus feinsten Streustücken über ihn, den frisch gefegten Boden und das Buch in seinen Händen. Staub und Weizenkleie verbargen die reliefartigen Zeichen, die einst "Die Tugenden des Kriegers" geformt hatten, und nun höchstens den Fingerspitzen noch ihre Bedeutung mitteilen konnten. Kyron strich die Spreu vorsichtig ab, hob einen Mundwinkel zu einem müden Schmunzeln und schlug das Buch vorsichtig auf, und seine Finger erkannten die Kanten und Ecken des Papiers wieder als hätte er es nie aus der Hand gelegt. Wie von selbst blätterten sie zum mittleren Drittel des verblichenen Werks, zu einer Seite, die quergestreift von staubigen Fingern war, immer wieder den selben Zeilen folgend. Die linke Hand hebend strich er einmal mehr über die verblichenen Zeilen, Wort für Wort lesend wie er es als kleiner Junge getan hatte.
"Die Wahrheit ist ein Schwert mit dutzend Klingen, doch ohne Griff an dem man sie greifen und beanspruchen könnte."
Die Worte, deren Hall, die Geste, sie alle brachten Erinnerungen zurück, Gerüche einer Vergangenheit, die wegweisend für seinen Weg gewesen waren. Biergetränkte Sägespäne, die in der Sonne hinter der Taverne gärten, durchsetzt mit Flecken von Erbrochenem und Urin, ein Gestank wie ihn kein bäuerlicher Misthaufen jemals erreichen konnte. Er fühlte die Bank, bestehend aus einem halbierten, Holzwurmzerfressenen Baumstamm, unter seinem Hintern, die Zugluft, die stetig durch die Taverne seiner Jugend geblasen hatte, und die ihm dort, auf der Bank neben dem Hintereingang direkt unter dem Küchenfenster, die Gerüche von frischem Eintopf und Schweiß zugetragen hatte. Er erinnerte sich sogar an die vielen Male an denen die Sonne seine Haut verbrannt hatte, seine viel zu blasse, kränkliche Haut, weil er vom Lesen derart gefesselt worden war dass er alle Warnungen seiner Mutter vergaß. "Was sitzt du ständig dort," hatte sie gehässig gezischt, "geh mit den anderen Jungen spielen! Sei einmal normal, Kyron! Warum kannst du nicht wie die anderen Jungen sein!"
Träge ließ der inzwischen erwachsene Mann die Zunge vom Gaumen auf den Unterkiefer klicken. Seine Mutter hatte ihn zu früh und zu krank auf die Welt gebracht, und die stickige Tavernenluft hatte ihr übriges dazu getan ihn kränklich und schwach zu halten. Er hatte sich stets gefragt ob sie ihn spottete, wenn sie ihn zu den anderen Jungen schickte. Er hatte sie gehasst, und er hatte Rat in seinem einzigen Besitz, dem Buch, gesucht.
"Die Wahrheit schneidet stets in beide Richtungen, und wird nur vom Lügner geführt," murmelte er, halb auf die Seiten blickend, halb aus der Erinnerung an die abertausenden Male, in denen er zu sich selbst gelesen hatte. Es war nicht unrecht, seine eigene Mutter zu hassen, soviel hatte er sich aus dem Buch zusammenreimen können. Natürlich stand in einem Handbuch für die romantischste Art des Kriegertums kein Hinweis darauf, wie ein zwölfjähriger mit seiner Mutter umgehen sollte, aber die Absätze über den Frauendienst hatten ihn zumindest in eine Bahn gelenkt, die ihn vom Muttermord abhielt.
Seine Mutter war eine Lügnerin gewesen, und eine Hure. Mit zwölf Jahren waren diese beiden Worte die schlimmsten Beleidigungen gewesen, die er sich vorstellen hatte können, und jeder der diese Worte benutzte, gar seine Mutter ins Spiel brachte, hatte sich einem schwächlichen, keuchenden Balg zügelloser Wut gegenüber gesehen. Kyron war als Junge derart oft verprügelt worden, dass es beinahe schon zum inoffiziellen Freizeitspaß der anderen Dorfkinder verkommen war, aber im Gegensatz zu all den anderen Momenten, in denen seine Mutter versucht hatte ihn dazu zu bringen sich körperlich zu betätigen, schien kein Maß von Prügeln jemals ausreichend, um ihn eines Besseren zu belehren. Besser noch - die häufigen Schlägereien vollbrachten am Ende, was keiner im Dorf ihm noch zugetraut hatte, und stählten seinen Leib wider allen Erwartens.
Am Ende hatte selbst der junge Kyron erkannt, dass kein Schlag dieser Welt etwas an der Wahrheit ändern konnte. "Sie ist ohne das Tun des Kriegers, und sie bleibt beständig, selbst nach seinem Tode," murmelte er, und hielt eine Hand schützend an den Rand des Buches als eine weitere heiße Windböe durch den Stall fegte. Wie er diesen Absatz gehasst hatte, wie er sich darüber aufgeregt hatte! Und doch war er immer und immer wieder dazu zurück gekehrt, hatte ihn nochmal gelesen, nochmals verflucht, das Buch von sich geworfen, es nur wenig später panisch wimmernd wieder aufgesammelt, und den Vorgang so lange wiederholt bis die Worte ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren.
"Der Krieger nutzt die Wahrheit nicht als Schwert, sondern als Nordstern, dem zu folgen wichtiger ist als ihn den Blinden vor Augen zu führen." Es war falsch gewesen, den anderen Jungen das Wort verbieten zu wollen indem er sie verprügelte. Am Ende, kurz nach seinem vierzehnten Geburtstag, da waren selbst die Mütter der Kinder vor ihm geflohen, hatten ihre Brut vor seinem stetig zornigen, stetig brodelnden Blick versteckt und seine Mutter beschuldigt, ein Monster heran zu ziehen. Die Hure die ihn geboren hatte jedoch wollte die Hand nicht gegen ihn erheben, und als es der Wirt - ihr Arbeitgeber - tat, da war Kyron geflohen, ungeachtet der blutigen Striemen auf seinem Hinterteil, fort von daheim, fort von allem was er kannte. Seine Mutter hatte ihm nachgeblickt, und ihn nicht aufgehalten, so wie sie ihn zuvor nie aufgehalten hatte. Er hatte nie wieder zurück geblickt, niemals bedauert, nie gefragt was aus seiner Mutter wohl geworden war.
Mit einem kontrollierten Luftstrom blies Kyron die Staubkörner und Strohreste zwischen den Seiten heraus, und rezitierte die letzten Worte zu dem leisen Klappen von Buchseite auf Buchseite.
"Wahrheit ist dort zu finden, wo sie nicht gesprochen werden muss, um erkannt zu werden."

Wie hatte er all das nur vergessen können?
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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RE: Die Saat des Irrtums - von Cahira Mendoza - 23.03.2020, 20:56



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