FSK-18 Bevor ich sterbe
#8
8. Heuert 1402

Die kleinen, sporadisch platzierten Kerzen flackerten milde in der müßigen Brise, die durch die Ritzen und Fensterrahmen zog. Ein paar winzige Staubflocken flogen durch den Lichtkegel, aufblitzend wie Funken bevor sie wieder in der Finsternis verschwanden. Nicht einmal die Nacht wollte sich abkühlen, und schlimmer waren bisher nur die Tage voller erbarmungslosen Sonnenscheins gewesen. Warm genug um nackt durch das Haus zu streifen, was sie zuvor gemacht hatte, und warm genug um mit nacktem Hinterteil auf dem herrlich gepolsterten Sessel zu sitzen, den sie zu ihrem Arbeitsplatz auserkoren hatte.
Das Hemd an ihrem Leib war zu groß, und es war nicht ihres. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, es gänzlich zu schließen, es nur über die Arme gestriffen als eine Form von Ausrede, sollte jemand durch die Fenster im Erdgeschoss blicken. Es erweckte falsche Hoffnungen in Nachtschwärmern, präsentierte man ihnen nackte Brüste, und Shae stand nicht der Sinn danach Stelzböcken mahnende Schnitte zuzufügen.
Der Besitzer des Hemdes räkelte sich minimal auf dem Bett hinter ihr, gerade genug um über die Schulter zu blicken und seinen verbeulten, narbigen Leib zu betrachten. Spätestens in sechs Stunden würde sein ganzer Leib blaurot gescheckt sein, und spätestens dann würde er es ihr insgeheim danken, dass sie ihn dieses Mal nicht auf dem Boden in seinem Haus schlafen hatte lassen. Der Fuß an zusätzlicher Höhe würde es ihm einfacher machen, sich morgens aus dem Bett zu schälen, so lächerlich diese Distanz auch war.
Gedankenverloren lehnte Shae die Wange auf den hemdsbedeckten Oberarm, während ihre Hände sich enger um das angezogene Knie schlangen. Der Stoff roch nach ihm wie eine farbenfrohe Erinnerung an seine Haut, und ließ Stellen tief in ihrem Leib zucken. Die Augen schließend biss sie sich auf die Unterlippe und ließ die Welle der stillen Begierde über sich hinweg rollen, milde schaudernd während Erinnerungen und Zukunftsvisionen einen wilden Tanz durch ihren Verstand aufführten.
Sie konnte die frische Wunde unter seinem Auge aus ihrer Erinnerung abrufen als säße er vor ihr, und jeder Stich den sie gesetzt hatte um das Schandmal aus seinem Gesicht zu bannen kribbelte durch ihre Finger. Schlief er, oder lauschte er wieder? Sie konnte es nicht abschätzen, und sie hatte ihn nie gefragt. Es war ihr nicht egal ob sie ihn vom Schlaf abhielt, aber es auszusprechen hätte ihrem nächtlichen Lauern seinen verrufenen Zauber genommen.
Mit einem stillen Lächeln wandte sie den Blick von seiner friedlichen Form ab und blickte wieder vor sich. Nein, er schlief, da war sie sich sicher. Wäre er wach gewesen und hätte sie dort auf dem Sessel kauern gesehen, in nichts gehüllt als ihre vom Liebesspiel zerzausten Locken und sein sauberes, frisch gewaschenes Hemd, er wäre nicht liegen geblieben.

Vergisst du nicht etwas, Sturmkrähe?

Mit einem leisen Seufzen ließ sie das Kinn auf ihr angezogenes Knie sacken und schloss die Augen. Auf die Stimme in ihrem Kopf war stets Verlass wenn die Frage nach ihrem eigenen Glück im Raum stand. 'Nein, ich habe es nicht vergessen. Ich werde es nie vergessen, aber die Dinge sind anders. Zu unberechenbar, zu verquer und falsch. Wenn ich vorpresche kann ich alles verlieren,' erklärte sie dem Spott im Kopf still und kämmte sich mit einer Hand durch das Haar.
Sie konnte ihn noch auf ihren Lippen schmecken, und auf der Zunge, dort wo sie ihn gekostet hatte wie eine teure Praline. Ein Hauch von Blut hing dem Geschmack nach, umso verruchter weil sie nichts damit zutun gehabt hatte, es aus seinem Leib zu schneiden. Es war ein seltsam euphorisches Gefühl, einmal nicht dafür verantwortlich zu sein was passiert war. Nicht zur Verantwortung gezogen zu werden, nicht um Hilfe gerufen zu werden, sondern einfach da zu sein, gewollt zu sein.
Ein Windhauch fuhr in ihren Kragen und trieb die zuvor frischen, nun langsam gelierenden Schweißtropfen ihren Rücken weiter hinab, erfrischend und kühl in der stickigen Sommernacht. Die Kerzen flackerten erneut. Zitternde Schatten huschten über das unbeschriebene Blatt Papier vor ihr auf dem Tisch.
Es war seltsam zurück ins Bett zu wollen und gleichzeitig nicht zurück ins Bett zu wollen, heraus getrieben von der Angst die Nacht könnte zu schnell enden. Auf den Sitz genagelt von der Furcht, seine geraunten Worte zu vergessen und den nächsten Tag zu beginnen wie jeden anderen, blind und taub für die Gedanken die durch seinen Kopf rauschten wenn er sie ansah. Es waren keine wichtigen Worte gewesen, nichts was die Welt untergehen ließ sollten sie verdrängt werden, aber das Erschaudern, das Zittern und das Ziehen in ihren Lenden würde vielleicht nie wieder in dieser Form durch ihren Leib schleichen. Shae hatte in all den Jahren zuviel verloren, zuviel vergessen, zuviele Dinge nicht beachtet und damit auf ewig aus den Geistern der Menschen gebannt, um sich selbst zu ignorieren, oder die Glorie dieses Moments.
Vielleicht würde er sie in zwei Wochen wieder vergessen, vielleicht würde der Zauber den er in ihr sah verschwinden. Es wäre nicht das erste Mal und nicht das letzte Mal. 'Und aye, ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, ich weiß, aber lass mir diese Ablenkung, nur diese. Fünf Jahre war ich pflichtbewusst und tapfer, ohne Meckern und ohne Murren, zielgerichtet wie ein Pfeil, lass mir diese eine Sache, ihn, nur ein bisschen.'
Wenn es nur zwei Wochen waren, oder eine, sie würde nichts bereuen. Wenn es eine längere Zeit war, gar kein Ende in Sicht kam, dann würde sie sich mit dem Problem auseinandersetzen müssen. Dann würde sie einen Weg finden müssen, ihm Dinge zu erklären, die er nicht beeinflussen können würde, so sehr er es wollte. Dinge, die vielleicht zuviel waren für dieses Equilibrium zwischen ihnen, Dinge die etwas Unkompliziertes so schrecklich kompliziert machen würden, dass er sich am Ende angewidert abwandte.
Shae warf einen Blick auf das Papier vor sich, auf die Stelle an der sie üblicherweise "Kordian" schrieb, die Einleitung ohne "Lieber" und ohne "Mein" und ohne jegliche andere Personalisierung, dann glitt ihr Blick zurück zum Bett. Der Stift wollte ihr nicht in der Hand liegen, und verschwitzte Strähnen fielen ihr immer dann in die Augen wenn sie sich vorbeugte um zu schreiben, und überhaupt ging ihr in dieser Nacht ein völlig anderer Name durch den Kopf.
Mit einem verlegenen Kopfducken lächelte sie auf und rieb die Wange am leise raschelnden Hemdstoff. Der Seifengeruch war nur noch eine müde Erinnerung, zu sehr hatte das Hemd ihren Schweiß aufgesogen, aber darunter war immer noch diese Grundschwingung, die ganz und gar die Seine war, unverwechselbar.
Mit einem leisen Seufzen neigte sie sich hinüber zur Kerze und blies sie aus, dann wanderte sie auf leisen Fußballen hinüber zum Bett und ließ das Hemd zum restlichen Haufen Kleidung fallen, den sie im Laufe der Nacht erzeugt hatten. Es war unmöglich, in dieser Nacht an jemand anders zu denken als ihn.
'Axis.'
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Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 06.06.2015, 00:15
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 06.06.2015, 22:22
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