FSK-18 Bevor ich sterbe
#7
02. Heuert, 1402

Irgendwo vor der löchrigen Wand schrie ein Vogel, die kühlen Stunden ausnutzend die zwischen der absoluten Nachtfinsternis und der ähnlich absoluten Helligkeit des Sonnenaufgangs lagen. Vögel mochten Shae normalerweise nicht aus dem Schlaf schütteln, aber dieser brachte sie dazu, die Augen zu öffnen.
Die Schlafmatte war nicht unbequem, aber zu zweit darauf zu liegen bedeutete, sich dicht aneinander zu drängen bis Arme und Beine einen gordischen Knoten bildeten, und obwohl es noch angenehm lau war, würde solche Nähe mit Aufgang der Sonne zu unerträglichen Schweißausbrüchen führen. Zu zweit... der Gedanke entlockte ihr ein Grinsen und brachte sie dazu den Kopf zu heben, und auf den narbenbedeckten Körper neben sich zu blicken.
Die Narbe an seiner Hand hatte sie schon vor Tagen genauestens untersucht und war fasziniert gewesen. Nicht so sehr von der Verletzung an sich, sondern eher von der Vorstellung wie er sie erhalten hatte. An einen Baum genagelt, im letzten Moment frei gekommen, solch alte Rituale hatte Shae schon lange nicht mehr in Aktion gesehen. Nicht seit sie die letzten Menschenopfer gebracht hatte, in der Zeit vor der Zeit, als Blut die Äcker zum Wachsen gebracht hatte, in der Zeit als man Verräter an einem Knöchel in das Geäst einer Blutbuche gehangen, ihnen den Bauch aufgeschlitzt und sie am eigenen Blute ertrinken hatte lassen.
Es waren alte, archaische Rituale, grausig und blutig, und gerade deshalb von einer Macht wie sie kaum noch in Zeremonien zu erleben war. Natürlich, ab und an ergaben sich noch Zufälle, grausig-blutige Zufälle welche die Würfel des Schicksals genau richtig fallen ließen und einen zeremoniellen Ablauf zu einem unglücklichen Naturschauspiel formten, aber das passierte viel zu selten.
Die Narbe an seinem Hals aber, die hatte sie vorher nicht entdecken können, nicht solange er Kleidung getragen hatte. Ein fast perfekter Seilabdruck schlang sich um seine Kehle und seinen Nacken, bildhaft dafür an welchem Strick er gebaumelt hatte. Eine schlecht durchgeführte Hängung bedeutete den langsamen Tod, und ein schlecht angebrachtes Seil - wie seine Narbe es erzählte - konnte zu einer Folter werden, die erst nach langem, langem Ringen im Tod endete.
Zweimal war er dem Tod entgangen, und zweimal war er wie ein Rachedämon über jene hergefallen, die versucht hatten ihm das Leben zu stehlen. Wenn dieser Mann nicht von den Göttern oder sonst einer Macht gesegnet war, wusste Shae nicht wer es sein sollte. Es war Teil dessen, was sie zu ihm gelockt hatte, neben dem üblichen Drang zu sehen ob sie ihn provozieren konnte. So aufgeräumt, so gepflegt, so gefasst und gelassen, sein schieres Auftreten hatte an ihrem Wesen gekratzt wie eine rauhe Weste.
Ihr Grinsen wurde breiter und sie rollte sich näher um an seinem Hals zu schnuppern. Der Seifenduft war fort, eine ferne, vergessene Erinnerung, begraben unter ihrem eigenen Geruch, und sein Schlaf war ebenfalls nur gestellt, wie sie mit einem verhaltenen Zucken feststellte. Das Herz schlug zu schnell, der Atem war zu gleichmässig und tief, als schien er reglos darauf zu lauschen was sie als nächstes tun würde. Eine genauso dezente Spannung hatte seinem Leib inne gewohnt als sie am ersten Tag seine Taschen mit dem Vorwand einer Umarmung durchwühlt hatte, und wie an jenem Tage hatte etwas sie davon abgehalten zu sehen wie er auf Schandtaten reagieren würde.
Kurz starrte sie in sein Gesicht, dann ließ sie den Kopf wieder sinken und schlang die Arme enger um seine Brust, leise murmelnd, "bevor es zu heiß wird."
Shae ahnte bereits dass er vermutlich fort sein würde wenn sie das nächste Mal aufwachte. Es belastete sie nicht. Krieger, Söldner, Paladine, sie hatte ihr Leben an deren Seiten verbracht, sie aufstreben, kämpfen, siegen, verlieren und sterben gesehen, während sie selbst weiter durch die Zeit wandelte. Sie würde diese Zeit nutzen, das Beste daraus machen, und sich nur an die guten Zeiten erinnern, wenn er schließlich verstarb oder vom Erdboden verschluckt wurde.
Das Schicksal des Söldners war bereits jetzt zu omenbehaftet um darauf zu hoffen, dass er lange an ihrer Seite bleiben würde, aber Shae war nichts wenn nicht pragmatisch.
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Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 06.06.2015, 00:15
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