FSK-18 Bevor ich sterbe
#5

20. Wonnemond 1402

Shae hatte lange niemanden mehr als Freund bezeichnet. Die letzten Freunde hatten sie einer nach dem anderen verraten, betrogen, im Stich gelassen und zu töten versucht, und nachdem sich dieses Muster wieder und wieder ereignet hatte, hatte sie am Ende etwas wie Freundschaft einfach aufgegeben. Wenn man oft genug getreten wurde, sobald man am Boden lag, sorgte man sich irgendwann mehr darum in Momenten der Schwäche nicht von anderen Menschen umgeben zu sein, als darum ob vielleicht doch jemand dort draußen war, der bereit war eine helfende Hand hinab zu strecken.
Bitternis darüber hatte sie früher verspürt, dann war es Trotz gewesen, dann Rachsucht und Hass, aber nun herrschte eine gewisse frustrierte Gleichgültigkeit darüber.
Umso überraschender waren Cois’ Worte, nicht zu sprechen von dem Fakt, dass Cois sich überhaupt die Mühe machte, sich nach ihrem Befinden zu erkunden. Die Stimme in ihrem Kopf wollte sich wieder einschalten, ätzend darüber klagen dass es ‘nur’ Cois war, aber in diesem selten gesähten Moment verbot Shae dem körperlosen Ding den Mund, und es gehorchte auch tatsächlich. Es gab kein ‘nur’, wenn sich jemand als Freund bezeichnete, selbst wenn dieser Jemand nicht zu ahnen schien was für ein mächtiges Wort es war.
Während sie so dort im Goldenen Raben saßen, in der völligen Stille die eingekehrt war, kaum dass der letzte Druide sich zur Ruhe oder zurück zur Stadt begeben hatte, da schämte Shae sich für einige Momente tatsächlich. “Warum hast du dich nie gemeldet?” fragte Cois, und das zu Recht. Als Galatier war er in all der Zeit nur wenige Inseln weiter gewesen, und als Infanterist war er durch die selben Löcher gekrochen wie Kordian. Cois war jemand, den sie durch seine gelassene Ruhe und seinen trockenen Humor schon damals zu schätzen gelernt hatte, auch wenn die Fäden seines Schicksals für Shae völlig undeutbar waren. Hatte Kordian, hatte ihre Rache an ihm sie so sehr eingenommen, dass sie darüber hinweg dieses Mal selbst jemanden im Stich gelassen hatte?
Selbst als Cois sich zur Ruhe begab wollte der Gedanke Shae nicht mehr loslassen. Dort wo man einen Floh sah, sprangen hunderte ungesehen herum. Dort wo sie ein Indiz dafür fand, dass sie Mitschuld trug, dort waren hunderte ungesehene Beweise, und das war etwas, was Shae nicht dulden konnte. Wahrhaben wollte sie es allerdings auch nicht, dafür würde es noch mehr Zeit benötigen, denn alte Hunde blieben gerne auf ihrem gewohnten Platz.
“Ich werde nicht zulassen dass du ihn umbringst, aber ich werde deine Rache ansonsten nicht behindern,” hatte Cois gesagt. Diese Worte verwirrten sie, und auch das war etwas womit sie nicht gerechnet hatte. Warum stellte sich dieses Mal niemand in ihren Weg, selbst als sie das Risiko eingegangen war und die Wahrheit gesprochen hatte? Warum waren Kordians Mitstreiter darauf erpicht, sie zu versöhnen statt sie und die Gefahr die sie brachte auszumerzen?
Es gab so viele Antworten auf diese fassungslosen Gedanken, soviele Möglichkeiten, soviele Fäden, denen sie folgen konnte, aber keiner davon wollte ihrem aufgewühlten Geist lange anhaften. Mit keinem von den Geschehnissen dieses Abends hatte sie gerechnet, weder damit dass sich jemand um sie sorgen könnte, noch damit, dass Kordian sie damals vor all den Jahren tatsächlich gesucht hatte, noch damit dass man sie eher eine Rache vollziehen lassen würde, bevor die Infanteristen ihr vorschnell ein Haar krümmten.

‘Das ist die Strafe für deine Selbstgefälligkeit,’ meldete sich die körperlose Stimme wieder, mit dem üblichen Schmunzeln im Klang das Shae an ein herablassend lächelndes Gesicht erinnerte. ‘Du hast geglaubt alles sei wie früher, und du hast nicht ein einziges Mal die Runen für jemand anders als Kordian geworfen. Du weißt nicht mehr was wahrlich vorgeht, also könntest du genauso gut nichts wissen. Dummes, dummes Ding das du bist.’

Dieses Mal erwiderte Shae in Gedanken nichts auf den Spott. Manchmal war es besser einzusehen, dass man falsch gelegen hatte, als sich an ein sinkendes Schiff zu klammern. Es war Zeit die Augen für den Rest der Welt zu öffnen, zu sehen was wirklich dort passierte, und die Sucht nach Vergeltung zurück zu stellen. Wissen war Shae’s Waffe, und ihre Waffe hatte sich an diesem Abend als erschreckend stumpf erwiesen.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 06.06.2015, 00:15
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 06.06.2015, 22:22
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 07.06.2015, 19:43
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 09.06.2015, 00:02
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 11.06.2015, 03:01
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 22.06.2015, 20:44
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 04.07.2015, 13:30
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 09.07.2015, 02:48
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 18.09.2015, 22:55
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 23.10.2015, 14:52
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 29.10.2015, 01:49
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 12.12.2015, 02:13
RE: Bevor ich sterbe - von Shae MacLoscann - 18.03.2016, 03:25



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste