FSK-18 Grübeleien
#26
Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern


Candaria neigte dazu sie trübsinnig zu machen. Jedes Mal aufs neue war es unfassbar skurril. Dieser Kontrast aus der beschaulichen Idylle eines verschlafenen Lehens, der friedlichen, blühenden Landschaft und der jederzeit perfekt warmen aber nicht zu heißen Sonne auf der einen Seite und den Ruinen eines zerstörten Landes, den stinkenden, verdorbenen, fauligen Überresten eines Krieges, die nie wirklich beseitigt wurden auf der anderen Seite, lies jedes Mal aufs neue bei ihr die unterschwellige Frage aufkommen, was von der Stille die über Candaria lag, Frieden und was Tod war, und sie war sich bewusst, dass sie auch heute auf diese Frage, wie immer keine Antwort finden würde.


Innerlich sah sie immer noch Elfie Kuchen backen, die Knechte die Felder bestellen, sie sah Misitia auf ihrem Balkon, sah ihre Nachbarn feiern, sie sah Ceras wie er am Strand schmollte weil ihr Fisch größer gewesen war und sie spürte das bittersüße Lächeln auf ihren Lippen, als sie Elda und Morkander das erste Mal zusammen sah. Sie hörte die Möwen kreischen und die Pferde wiehern und sie sah ein Städtchen in dem das einzige was es nicht perfekt sein lies, die schlichte Tatsache war, dass es nicht Ravinsthal war und sie nicht zu Hause. Die Menschen waren so anders gewesen, für sie selbst war alles zu beschaulich, aber es gab nichts was man gegen Candaria hätte sagen können. Der größte Mangel an den Candarianern war ein Mangel an Ehrgeiz und sie konnte es verstehen. Sie waren glücklich mit dem was sie hatten und alles weitere wäre in ihren Augen unnötig gewesen und eine Mühe die nur ihren Frieden störte
Doch wenn sie die Augen öffnete, lies sich nun mal nicht verleugnen, dass davon nicht mehr viel übrig war. Das erste Mal fragte sie sich, warum sie die Spuren nie beseitigt hatten. Warum gammelte das tote Rind dort immer noch in dem verlassenen Haus vor sich hin und warum fanden sich in der Sonne verdorrte Skelette an Pfählen? War es die candarische Trägheit die sie davon abgehalten hatte nach dem Krieg aufzuräumen? War es der mangelnde Ehrgeiz warum die neue Burg immer noch nur halb fertig gebaut war?
Zu gerne hätte sie mit Elfie darüber gesprochen. Aber sie wusste nicht mal wo sie hin war. Sie hatte die Fuchsenfeldes gern gemocht, allesamt.

Lieber schloss sie die Augen und erinnerte sich an die alten Bilder. Aber das machte es schwer für sie, zu sagen ob sich etwas veränderte. Waren es mehr Spinnen geworden, oder fühlte es sich nur so an weil sie nicht in ihr Bild eines friedlichen Candarias passten?
Waren diese halb vergammelten Tieropfer letztes Mal schon da gewesen? Was war mit den kleinen Steinstatuen in den Bauruinen einer unfertigen Verwaltung, die da so fehl am Platze herum standen? Hatte sie diese bisher übersehen? Oder gesehen und sie waren einfach wieder ihrem Bild von früher gewichen?
Ana vermochte es einfach nicht zu sagen.
Was sie zu sagen vermochte war, war dass es sch unbehaglich anfühlte, außer den Tagelöhnern niemandem zu begegnen.
Aber sie bemühte sich die Augen offen zu halten und sich ab sofort die Details und Gesichter genauer einzuprägen.



Überlege wohl, bevor du dich der Einsamkeit ergibst, ob du auch für dich selbst ein heilsamer Umgang bist.



Nun war sie jedenfalls wieder zu Hause und atmete das erste Mal seit längerem wieder durch. Der Tag heute war herrlich ereignislos gewesen und so kam sie endlich dazu, all das was in den letzten Wochen geschehen war, vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen.

Für die Ablenkungen war sie sehr dankbar, auch wenn sie sich schönere Gründe hätte vorstellen können. Feste, Einhörner die auf den Rabenfeldern grasten, unerwarteter Reichtum, Freunde die wieder auftauchten. Irgendwas in der Art. Dämonische Sternschnuppen gehörten hingegen nicht zu den Dingen die auf ihrer Wunschliste sonderlich weit oben standen.
Zugegebenermaßen gehörten aber zumindest "Vorbereitungen und Rituale um irgendetwas grauenvoll schreckliches abzuwehren" weiter oben auf diese Liste als "Nach Hause kommen und grübeln und in Depressionen verfallen".

Ana hasste nichts tun. Zumindest nichts tun zu müssen. Nichts tun zu dürfen, wenn ihr danach war, war hingegen kein Luxus sondern eine Notwendigkeit. Und so gönnte sie sich auch in den hektischsten Momenten eine Auszeit wenn sie es für nötig empfand. 


Sie wünschte es gäbe jemanden mit dem sie ihren geliebten besonderen Ort teilen könnte. Aber es gab niemanden. Er fehlte ihr so unglaublich. Ja sie hatte vorgehabt es zu beenden, aber in den stillen Momenten kam sie nicht umhin zuzugeben, dass irgendwas tief in ihr drin gehofft hatte, dass er etwas dazu zu sagen hatte was ihre Sorgen davonpustete.

Statt dessen war er verschwunden. Ganz und gar verschwunden ohne dass sie sich hätten aussprechen können. Sie hatte keine Ahnung wohin er verschwunden war. Vielleicht hatte Anjalii ihn doch überzeugt dass sie nach Laskandor mussten? Auch wenn sie eigentlich eingesehen hatte, dass es dort nichts mehr für sie gab, konnte keiner abschätzen was in ihrem Kopf doch noch vorging. Zumindest waren beide wie vom Erdboden verschluckt.
Unterm Strich war es aber auch egal. Es war wie es war und sie würde sich bemühen nicht mehr so oft und so viel darüber zu brüten. Zumindest sie würde dieses Mal nach vorne sehen. Sollte doch der Abyss ihn verschlingen... Dennoch verstand sie nicht wie er sie so verletzen konnte. Aber es war wie es war.
Schlimm war es eigentlich nur wenn sie abends nach Hause kam und das Haus war leer. Eine Weile war sie im Anwesen geblieben. Eigentlich mehr um den Wachen ihre Nutzlosigkeit zu nehmen. Ein leeres Haus zu bewachen, war sicher sehr frustrierend. Aber nun hatte sie den Großteil des Krams der bei ihm herumlag , nach Hause geschafft. Nur selten saß sie noch auf dem Balkon oder kam zu Besuch um ein wenig zu plaudern.



Ein Urteil lässt sich widerlegen, aber niemals ein Vorurteil


Ihre Gedanken schweiften zu den grünen Flammen. Wenn sie daran dachte, war es vielleicht nicht schlecht, dass er gerade nicht da war. Wer weiß zu was für Problemen das wieder geführt hätte. 
Sie dachte an das leuchtende Geschoss das über sie hinweggesaust war.
Es war verstörend gewesen und dennoch hatte sie keinen Moment gezögert nachzusehen was geschehen war.

Ein Lächeln schlich sich auf ihre Züge. Sie war schon immer mit dem Kopf voran in jedes Abenteuer gestürmt und wenn es darum ging etwas zu schützen wen oder was sie liebte, dann kannte sie keine Furcht. So oft hatten Leute sie dafür gescholten, aber sie war nun mal wie sie war. Branwens Leidenschaft zeigte sich auch in diesen Dingen. Aber Ogma raufte sich sicher oft die Haare über ihren Mangel an Weitsicht.
Kyron wäre nun nicht die Begleitung gewesen die sie sich gewünscht hätte, aber unzweifelhaft fühlte sie sich in seiner Begleitung eben doch sicherer als in Welfs. Ein gestandener Krieger war etwas anderes als ein mäßiger Schneider, der noch mäßiger mit dem Degen fuchtelte.

Und so hatte sie sich dieses Mal nicht ganz so unbehaglich gefühlt wie sonst, wenn er da war. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich nach und nach etwas annäherten. Sicher würden sie nie Freunde sein. Dazu hatte sie viel zu oft den Wunsch ihm den Kopf von den Schultern zu reißen, aber sie respektierte ihn und sie hatte den Eindruck dass die gegenseitige Abneigung sich langsam etwas aufzulösen begann.
Als er sich gegen den laufenden Säureklumpen gestellt hatte, stand für sie außer Frage, dass sie ihn damit nicht allein lassen würde. Und sie waren beide an dem Abend wieder nach Hause gekommen.

Was seltsamer war, war wie sehr sie sich an bestimmte Dinge gewöhnt hatte. Er war sich sicher gewesen, dass es dämonisch war und wie  sehr er keinen Zweifel an der Tatsache offen lies, lies wiederum in ihr einen gewissen Verdacht aufsteigen. Einen der sie erstaunlich wenig verstörte und an den sie keinen zweiten Gedanken verschwendete. Einfach weil es ihr nicht wichtig genug erschien. Sie nahm es so hin. Und zu einer anderen Zeit, hatte der Verdacht sich bewahrheitet und immer noch entlockte es ihr inzwischen nicht mehr als ein Schulterzucken. 

Vielleicht hing es ein Stück weit damit zusammen, dass sie selbst nun von den Göttern noch auf andere Weite gerufen wurde. Sie hätte niemals damit gerechnet. Niemals. Als Kyron sie nach Weihwasser gefragt hatte, war sie absolut überfordert gewesen. Und keine zwei Wochen später, stand sie an einem fliesenden Gewässer und weihte es. Natürlich nicht einfach so und natürlich nicht allein, aber sie tat es! Das war zu verrückt!


Wenn ich nicht für mich selbst bin, wer wird dann für mich sein? Und wenn ich allein für mich bin, was bin ich dann?


So viel geschah in so kurzer Zeit. Es war kein Jahr her, dass sie mit einem Haufen heimatloser Tunichtgute in zerfallenen Häusern hauste und stahl was nicht niet- und nagelfest war und seitdem hatte sie ein wunderschönes Haus gefunden, ihre Arbeit wieder aufgenommen, alte Freunde wieder getroffen und Feinde, neue Freunde gefunden, sich als Pferdezüchterin versucht, eine Festung besetzt, einen Menschen begraben, einen Gefährten gefunden ... und wieder verloren. Kurz seufzte sie, verharrte aber nicht lange bei diesem Gedanken. Und vor allem anderen, hatte sie der Ruf der Götter wieder erreicht. Sie hatten ihr Zeit gelassen zur Ruhe zu kommen, ihr dann Menschen geschickt die ihr halfen sich zu erinnern und ihren alten Groll endgültig abzustreifen und dann hatten sie sie in die Pflicht genommen. Sie hatten ihr sogar ihre Gaben geschenkt. Nicht dass sie immer noch nicht verstand was sie da überhaupt tat, aber es fühlte sich richtig an und wenn es wichtig war, dann schien die Liebe die sie ihr gegenüber empfanden, auszureichen, dass es sich bewahrheitete. Was hatte Anouk gesagt? Instinkt. Natur. Zumindest das ergab inzwischen Sinn. In weltlichen Dingen war sie unzweifelhaft meist dem Schatten zugeneigt, Sie plante, spann Netze, zog Fäden. Zumindest tendenziell tat sie wenig ohne Hintergedanken. In diesen spirituellen oder magischen Dingen hingegen, versagte ihr Verstand gänzlich. Sie begriff nicht was sie tat, aber sie tat es. Sie verließ sich gänzlich auf ihr Bauchgefühl. Und offenbar honorierten die Götter dies. Sie hatte sehr damit zu hadern gehabt, hatte es gar als Versagen betrachtet, aber langsam ging ihr auf was ihre Lehrmeisterin ihr zu sagen versuchte. Es war in Ordnung es nicht zu begreifen. Verdammt noch mal, es waren Götter und ihr Tun, wie sollten sie es verstehen? Nicht wahr? Das was die anderen beiden so mühelos scheinbar, begriffen, war am Ende auch nur der Versuch das Unbegreifliche in Worte und Formen zu kleiden. Und so wie das ihr Weg war damit umzugehen, war es genau so in Ordnung, sich eben nur darauf zu verlassen und zu vertrauen.
Sie hatte immer einfach darauf vertraut dass die 21 sie führen würden, warum sollte sich dies nun ändern wo sie Geweihte war?

Geweihte... sie konnte es immer noch nicht fassen. Erst des nachts, als sie im Bett lag, war ihr aufgegangen welcher Tag es war. Ihr Geburtstag. vor nun mehr 27 Jahren, hatte sie ihren ersten Schrei getan. Hatten ihre Eltern ihr einen Körper und die Götter ihr eine Seele, eine Persönlichkeit geschenkt.
Doch erst vor 6 Jahren, passenderweise an ihrem 21. Geburtstag, hatte sie erfahren welche. Sie hatte nicht mehr warten können und so war man übereingekommen, dass ausnahmsweise der Geburtstag an Stelle der Sonnwende, auch ein akzeptabler Termin wäre. Und nun, auf den Tag genau 27 beziehungsweise 6, nach diesem Tag, hatte sie erfahren, dass sie nun offiziell als Geweihte gelten durfte. Das machte sie unfassbar glücklich. So glücklich, dass einen Augenblick, all die Aufregungen und Sorgen der letzten Wochen einem Moment des Friedens und der Gelassenheit Platz machten. 
Ihre Finger strichen gedankenverloren über den dunklen Stoff, die feinen schwarzen Federn darauf. Sie würde Anouk fragen ob sie in Zukunft die Roben nähen durfte, wenn keine mehr auf Vorrat da waren.



Gebete ändern die Welt nicht. Aber Gebete ändern die Menschen. Und die Menschen verändern die Welt.


Ihr Blick wanderte zum Mond, der so voll am Himmel stand. Candaria, dämonische Flammen, zu fütternde Tiere, verschwundene Idioten, dreckiges Geschirr und all diese Katastrophen und Unannehmlichkeiten und Pflichten, würden heute Nacht einfach weichen müssen. Heute Nacht war nur Platz für sie und den Mond und die Götter. Heute Nacht würde sie wach bleiben und erst zu Bett gehen wenn sie Sulis des morgens noch begrüßt hatte.
Und so konnten einige frühe Spaziergänger, aber ganz sicher Angus der sich immer noch am Rabenkreis herumtrieb, Ana entdecken, die offenbar auf dem kleinen Berg oben am Rabenhügel, eingedöst war. Der Abstieg vom höchstmöglichen Platz, war ihr so kurz nach Sonnenaufgang, dann vielleicht einfach zu anstrengend gewesen. Oder es war einfach so, dass Galates sich entschieden hatte ihr heute in den wachen Stunden Gesellschaft zu leisten und dieses Mal war es Sulis die über ihren Schlaf wachte? Wer vermochte das schon zu sagen. Sicher zu sagen war jedoch, dass sie in den nächsten Tagen ruhiger und ausgeglichener und weniger besorgt und kummervoll getrieben wirkte.
[Bild: Anabella-Signatur.png]
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Grübeleien - von Anabella - 07.06.2013, 18:52
RE: Grübeleien - von Anabella - 22.06.2013, 00:25
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Feuer - von Anabella - 02.07.2013, 15:05
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RE: Grübeleien - von Anabella - 30.09.2019, 14:58
RE: Grübeleien - von Anabella - 10.11.2019, 20:19
RE: Grübeleien - von Anabella - 29.11.2019, 18:40



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