FSK-18 Das Tier in mir
#5
Was ist die menschlichste Handlung, die du tun kannst, nachdem du den Pelz verlierst und in deine ‚wahre‘ Gestalt zurückfindest? Am Rücken kratzen? Essensreste aus den Zahnzwischenräumen kratzen? Bier trinken? Dreck unter den Nägeln hervor pulen? Warum nicht alles davon.
Es ist erstaunlich, wie sehr das Ablegen des Pelzes juckt. Als hätte er die ganze Nacht einen kratzigen Pelzmantel getragen. Kaum im eigenen Zuhause angekommen, reibt er sich mit dem nackten Rücken an dem Mauerbogen. Wie sehr er doch die kargen, unverputzten Basaltziegel in seiner Heimat zu schätzen weiß. Vermutlich hinterlassen die rauen Stellen sichtbare Kratzer auf der bloßen Haut, aber das ist nichts woran er sich stören muss. Bis er beim Spiegel angekommen wäre, um seinen Rücken zu betrachten, wären die Kratzer schon verheilt.
Der Vollmond in seiner vollen Pracht hat sich vor weniger als einer Stunde verzogen. Bis er sich ein Bier mit Schaumkrone gezapft hat und in eine Hose geschlüpft ist, erhellt bereits die Morgendämmerung den Raum. Er sackt auf den Teppich vor dem Kamin, prostet der Restglut des abendlichen Feuers zu und kippt einen Großteil des Bieres. Einige Tropfen rinnen am Mundwinkel hinab in den Bart und auf die Brust. Es stört ihn nicht, denn etwas Wildheit kocht noch immer in seinem Blut. Der starke Einfluss des Vollmonds lässt sich nicht nur auf eine Nacht beschränken und zu der Zeit ist es noch schwieriger den Schein zu wahren.
Der großgewachsene Mann zückt einen Dolch und beginnt unter den Fingernägeln zu pulen.

In den letzten Stunden hat sich getrocknetes Blut zu den Verunreinigungen hinzugesellt. Immerhin war das Blut seine Entscheidung, im Gegensatz zu der nassen Erde in der er früher am Abend gewühlt hat.
War es eigentlich noch Grabschändung, wenn sich vorher schon jemand an einem Grab zu schaffen gemacht hat? Was war großartig zurück geblieben außer Knochen, Staub und Erde? Da war weit und breit nichts lebendiges mehr, sonst wären seine korrumpierten Artgenossen nicht so hungrig gewesen. Vielleicht hatte er sie erlöst indem er die Stüpp getötet hat. Waren sie an den Ort gebunden durch ihren Meister? Waren sie auf lebensmüde Abendteurer angewiesen, die des Weges kamen und zu ihrem Abendessen wurden? Dennoch fühlte er sich schmutzig. Vermutlich haben die Stüpp nicht mal im Entferntesten mit seiner Rasse zu tun, aber dennoch stellte sich das Schuldgefühl ein. Oder ist es die Schuld gegenüber deren Meister? Hätte er ihre Erschaffung verhindern oder zumindest beeinflussen können?

Welche Gedanken ihn auch getrieben hatten, er versuchte das Blut der Stüpp mit dem von ebenso korrumpierten Menschen zu überdecken. Immerhin sind Banditen, Diebe und Piraten ein unerschöpfliches Gut in Ravinsthal, sodass er jede Nacht Beute findet. Aber egal wie viele Brustkörbe er zerfetzte, Gliedmaßen er abriss und Körper er wie Puppen gegen nahe Bäume und Felsen schleuderte, die Wut wurde nicht weniger.

Immer wieder holte ihn der intensive Geruch seines ehemaligen Freundes ein, der ihm heute wie Säure in die Nase stieg. Es ist wahrhaftig eine Kunst von ihm als Freund bezeichnet zu werden. Er war oder ist aufrechter Mann, der erst der Wildheit und dann dem Wahnsinn verfiel. Der vertraute Geruch verfolgte ihn durch Candaria und bis nach Löwenstein. Selbst dort konnte er ihn nicht abwaschen. Er musste den Geruch los werden und wenn das nicht möglich war, dann musste er einen anderen, intensiven Geruch finden, um den penetranten Gestank zu überdecken.

Der Geruch des Scheiterns. Der Geruch von missbrauchtem Vertrauen. Der Geruch von enttäuschten Erwartungen. War er nicht der Verantwortliche für die anderen gewesen? Hatte man ihm nicht diese Verantwortung übertragen? Er ist ein typischer Beschützer und eigentlich sollte es nicht zu viel erwartet sein, dass er auf seine Schäfchen achtet. Sie sind alle fort, verschwunden oder korrumpiert. Gute Arbeit. Herzlichen Glückwunsch.

Mit einem erbosten Knurren sticht er sich zu tief unter den Nagel. Er beobachtet wie der rubinrote Blutstropfen wie eine Perle hervorquillt und wächst. Bis die Blutblase groß genug wird, um zu platzen, verschwindet sie, als wäre sie nie da gewesen. Seine Haut regeneriert sich und der Schmerz ist nur ein verdrängter Wiederhall.

Verdrängen. Ablenken. Vergessen. Was bleibt ihm anderes Übrig als weiter zu machen in Gedenken an die anderen. Nur das aus seiner Ablenkung meist nichts Gutes gedeiht. Eine Ablenkung muss seinen Neigungen und Vorlieben entsprechen. Das hatte dieser Abend und die erste Vollmondnacht des neuen Jahres ebenfalls mit sich gebracht. Eine neue Ablenkung, ein neuer Geschmack, eine neue Besessenheit. Sicherlich ist es kein guter Vorsatz fürs neue Jahr an alten, schlechten Gewohnheiten fest zu halten. Ganz bestimmt nicht.

Vögel besingen zaghaft den neuen Morgen. Die ersten Sonnenstrahlen wagen sich langsam über den Horizont. Er atmet erleichtert durch und spürt, wie der Druck der Mondnacht nachlässt. Zwölf Stundenläufe Tageslicht, um sich an die Vorteile des Menschseins zu erinnern. Er reckt die Arme in die Höhe und hört, wie ein Wirbel zurück an seinen rechtmäßigen Platz springt. Zeit für etwas Alltag. Er schlüpft in seine Arbeitskleidung und tritt nach draußen in die feucht-frische Winterluft. Der Wind trifft frech gegen seine Wangen, dort wo der Bart die Haut nicht schützt.

Er krempelt das Halstuch bis zur Nase hoch und zieht die Kapuze über den Kopf. Selbstverständlich nur als Schutz gegen das Wetter – redet er sich ein, als er sich unter den Sims eines der Fenster beim Nachbarhaus duckt. Laut-und mühelos klettert er an der Fassade hoch bis zu dem verhangenen Fenster, an dem der Geruch an Intensivsten ist. Nur ein Blick auf die Farbe des heutigen Nachthemdes – schwört er sich – dann würde er zum täglichen Geschäft aufbrechen. Nur einen Blick…
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Das Tier in mir - von Narbenauge - 22.04.2018, 18:26
Sadismus - von Narbenauge - 25.06.2018, 09:02
RE: Das Tier in mir - von Narbenauge - 30.07.2018, 15:03
RE: Das Tier in mir - von Narbenauge - 11.10.2018, 14:00
RE: Das Tier in mir - von Narbenauge - 11.01.2020, 15:33



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