FSK-18 Das Tier in mir
#4
Er hasste die Nächte um den Neumond. Während jeder Werwolf, dessen Vernunft noch ausgeprägt genug ist, jene Nächte begrüßt und sogar darauf hin fiebert, sieht das bei ihm anders aus. Die menschlichen Instinkte werden stärker und es fällt leichter in der 'eigenen' Haut zu bleiben. Zu gerne klammern sich die meisten Werwölfe an ihre menschliche Gestalt, versuchen sie gar krampfhaft zu erhalten und sehen es als Schwäche an, dem Wolf Freilauf zu geben. Zu Neumond gelingt die Rückverwandlung nur allzu leicht. Bei ihm ist das anders.

Bei ihm sorgen die dunklen Nächte dafür, dass er nostalgisch wird. Er erinnert sich an das erste Mal, als er sich gewandelt hat. Seit der Vollmondnacht seiner Wandlung sind mittlerweile zwei Jahresläufe ins Land gezogen. Als ihm das – im Zuge seines Gedankengangs – klar wird, schnaubt er verächtlich. Die Stimmen seiner Leidensgenossen hallen in seinem Kopf nach, als wäre es gestern gewesen. Sie waren von Panik bewegt, klammerten sich an ihre pelzlose, schwache Gestalt, an ihre Prinzipien, ihren Glauben und an ihre Kleider. Ihre Wandlungen waren schmerzhaft und das brachiale Knirschen von Knochen, das Schnalzen von Sehnen und das Ein- und Ausrenken von Gelenken wird ihm ewig im Gedächtnis bleiben. Gut, seine Wandlung war ebenso wenig vorbildlich, aber er stemmte sich nicht mit aller Kraft dagegen, sondern begrüßte sie.

Warum sollte man etwas als Fluch bezeichnen, das einem die Freiheit gibt, nach der man sich unbewusst seit fast dreißig Jahresläufen gesehnt hat?
Das deutlich sichtbare Pochen der Herzen seiner Kammeraden unter den Pelzen war nicht zu übersehen und zu überhören. Sie waren hysterisch nach dem vollendeten Gestaltenwechseln, während er selbst nicht genug davon bekommen konnte, sich durch den Staub zu wälzen und dem Wind entgegen zu flitzen. So war es kein Wunder, dass die anderen sich rasch in ihre menschliche Gestalt zurück zwangen – beachtlicherweise trotz dem Vollmond in jener Nacht – und, noch immer panisch aber beruhigter, ihre Kleider zurecht strichen. Er selbst benötigte deutlich länger, um zu seiner Gestalt zurück zu finden, obwohl böse Zungen behaupten, dass er optisch die geringste Wandlung durch macht, und als er schließlich im Staub lag, war er nackt, wie ihn Branwen einst geschaffen hat. Wann hatten die Menschen eigentlich begonnen, sich für das Natürlichste der Welt zu schämen?

Zwei Jahresläufe. Zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis?
Er hat sie alle überlebt.
Nun, es war zu weit gegriffen zu behaupten, dass sie alle tot sind, aber sie sind derart unauffindbar, dass es kaum einen Unterschied macht. Und er hat wahrlich jeden, verfluchten Stein umgedreht, an dem der Fetzen von Pelz oder die Spur einer Markierung hing.
In den letzten zwei Mondläufen hat er sogar die Wolfsrudel in der Gegend abgeklappert und nach Anhaltspunkten gesucht. Oh, die Wölfe waren alles andere als erfreut über den Besuch. Daran konnte er schwer etwas ändern, denn, obwohl er nächtelang im Wald schlief und sich nur in Wolfsgestalt ins Wasser wagte, roch er immernoch nach Mensch.
Es fehlte nicht nur die Spur der Wölfe, die vor zwei Jahresläufen mit ihm 'verflucht' wurden, denn die Hoffnung für den grauen, den schwarzen und die blonde hatte er schon vor einer Weile an den Nagel gehangen. Vielmehr sucht er nach einem seiner Nachkommen, mittlerweile waren es schon zwei an der Zahl. Oder zumindest nach dem Silberstreif. Nicht der am Horizont, sondern der Sauberwolf mit dem penibel sauberen Silberfell.
Die einzige, die er über Meilen hinweg riechen kann, ist die Jungwölfin. Was wohl der Grund ist, weshalb er sich möglichst von ihr fern hält. Umso länger er von seinem Kerl getrennt ist, umso verlockender wird ihr Geruch. Sicher, er hat versprochen sie nicht anzufassen, aber derjenige, der die Forderung gestellt hat – der Vater der Jungwölfin – ist nicht aufzufinden. Er liebt seinen Kerl, aber es ist verdammt schwer, sich an den Gedanken zu klammern, wenn man von Versuchungen umgeben ist.
Die Wölfinnen in dem fremden Rudel hatten ihn umstriffen, als wäre er eine seltene Fleischsorte. Sie schnappten nach einander, wenn eine Rudelgenossin zu nah an ihn heran kam. Die Tatsache, dass er ihnen die kalte Schulter zeigte, machte es nur noch schlimmer.
Sein Kerl wird glühen vor Zorn, wenn er es nicht längst schon tut. In den zwei Jahresläufen hat er sich einiges zu schulden kommen lassen, aber für eine so lange Zeit ist er noch nie untergetaucht. Dadurch, dass er sich tagtäglich im Dreck wälzt, selbst in Menschengestalt kaum Stoff am Leib trägt und lebt wie ein Waldbewohner, macht er es für seinen Kerl regelrecht unmöglich, ihn aufzuspüren. Die Wolfssinne und Instinkte sind denen seines Kerls mühelos überlegen.

[Bild: gkbqwp3a.jpg]

Aber es ist Zeit aus seinem selbstauferlegten Exil auszubrechen. Er schiebt die Entscheidung seit Tagen erfolgreich auf und findet hier und da noch eine Spur – selbst wenn es eine Alte ist, der er schon nach gegangen ist – nur um dem Ernst des Lebens nicht ins Auge blicken zu müssen. Wie es aussieht steht er ein weiteres Mal sogut wie alleine da. Wobei sich die Frage stellt, ob es je wirklich anders war.
Er rafft sein Hab- und Gut zusammen, was im Prinzip nur die spärliche Bekleidung ist, die er am Leib trägt und krabbelt auf allen Vieren unter der Steinformation hervor, die sowas wie sein derzeitiges zuhause darstellt. Nur kurz muss er die Nase in den Wind halten, um die Fährte aufzunehmen, die er zwanghaft versucht zu meiden. Seine Brust krampft sich kurz unwohl zusammen und er verflucht den Neumond ein weiteres Mal. Wenn wenigstens Vollmond wäre und er sich auf seine animalischen Sinne stützen könnte.
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Das Tier in mir - von Narbenauge - 22.04.2018, 18:26
Sadismus - von Narbenauge - 25.06.2018, 09:02
RE: Das Tier in mir - von Narbenauge - 30.07.2018, 15:03
RE: Das Tier in mir - von Narbenauge - 11.10.2018, 14:00
RE: Das Tier in mir - von Narbenauge - 11.01.2020, 15:33



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