Opfergaben
#1
Der Schrein am Rande des Winkelmeers war ihr mittlerweile so vertraut wie das kleine Zimmer in dem großen Gasthaus. So wie sie sich in stockfinsterer Nacht in diesem bewegen konnte, ohne gegen Stühle zu stoßen oder mit dem Kopf in herabhängende Kräuterbüschel zu geraten, konnte sie mit geschlossenen Augen am Schrein sitzend sagen, in welcher Richtung der Mond stand, wo in der unmittelbaren Umgebung der Schnee einen Fingerbreit höher lag und welcher Stein die Symmetrie um eine Winzigkeit störte.
 
Und auch ohne die Augen noch einmal öffnen zu müssen, wusste sie, dass die Gestalt ihres Gegenübers sich nicht verändert, nicht bewegt hatte. Sie wusste, der Geweihte würde nicht wanken, sie wusste, kein verirrter Eber, kein neugieriger Hirsch, nicht einmal ein Hase, würden das Ritual stören. Er würde wachen, sie würde beten. Es gab hier nur noch Schnee, Wind und einen hauchdünnen, beinah durchsichtigen Vorhang zwischen zwei Welten, den die Fingerspitzen schon berührten. Dies war der Kern ihrer aller Existenz, die destillierte Erfüllung, hier, wo alles abfiel, was unwichtig war. Hier, wo nur blieb, worauf es wirklich ankam: Teil der unbegreiflichen göttlichen Schöpfung zu sein und Instrument der Götter.
 
„Nehmt das Blut, das euer ist, seit Anbeginn der Zeiten, seitdem der erste der unsrigen euer Wort verbreitet hat. Ehre den allgewaltigen Göttern, denn alles begann mit ihnen und alles wird mit ihnen enden.“
 
Kräuterbüschel verbrannten zischend zwischen den glühenden Kohlen, sie atmete Rauch ein, tat den nötigen Schnitt am Unterarm, ließ das Blut in die Flammen tropfen und presste die Hände flach gegen die Erde. Ruckartig hob die Vatin das Kinn an, die Augen blieben geschlossen – und es begann.
 
„Seht eure Dienerin Gwendolyn, die zu euch kommt mit einer Bitte. Längst wisst ihr um diese Bitte, denn eure Augen sehen und verstehen alles. Gwendolyn erfleht eure Weisung, eure Lenkung, eure Führung. Sie begehrt ein Zeichen, aufdass jener Weg gewählt wird, der euch zur Ehre gereicht.“
 
Einer wachte, eine träumte. Einer sah Feuer, Schnee und eine eingerollt daliegende Gestalt aus schwarzem Stoff und rotem Haar. Eine sah, was die Götter sie sehen lassen wollten. Und verstand.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
Toast can never be bread again.
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Opfergaben - von Gwendolyn Lucia Veltenbruch - 04.02.2018, 14:37



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