Anouk: Gedanken
#3
RAN - VINDA

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Ich erinnere mich an den Tag, als ob es gestern gewesen wäre, dabei liegt es inzwischen über 15 Jahre zurück. Ihre Gesichter hatte ich auf Steine gemalt, die ich wütend in den Sumpf warf. Stein um Stein. Es waren genau sieben Stück. Ich hatte mir keine Mühe beim Malen gegeben; ihre Fratzen sollten möglichst hässlich sein. In meinem Zorn hatte ich nicht mitbekommen, dass mir meine Mutter auf den Holzsteg gefolgt war.

"Anouk? Warum weinst du?", fragte sie besorgt.

"Ich hasse sie!"

"Sag so etwas nicht", ermahnte sie mich streng.

"Sie wollen nicht mit mir spielen!"

Der letzte Stein flog in hohem Bogen über den Sumpf und verschwand mit einem "Plopp!" im schwarzen Morast. Ich zog den Rotz hoch und ließ mich dann am Ende des Holzstegs auf meinen Hintern fallen. Meine Füße baumelten nur knapp über der Wasseroberfläche. Mutter kniete sich neben mich und sah mich an, aber ich starrte weiterhin trotzig auf meine Knie. Dass mir die Tränen über die Wangen liefen, hatte ich gar nicht bemerkt.

"Warum spielen sie nicht mit dir?"

"... weil ich eine Hexe bin, sagen sie - wegen meiner verschiedenfarbigen Augen. Aelyn behauptet, ich würde sie alle in schleimige Kröten verwandeln. Ich wünschte, ich könnte es!"

Mutter legte mir behutsam ihre Hand auf die Schulter.

"Sie fürchten sich vor dir. Zeig ihnen doch, dass sie keine Angst haben brauchen, hm?"

"Sie lassen mich ja nicht. Bhreac ist gleich zu seinem Vater gerannt, dem Dorfschmied. Der hat mich geschimpft und gebrüllt, ich solle mich verziehen."

Mutters Stirn legte sich in tiefe Sorgenfalten. Ich konnte es nicht sehen, aber ich wusste, dass es so war, weil sie ihre Augenbrauen immer zusammenzog, wenn sie sich Gedanken über etwas machte - eine Eigenart, die ich unbewusst von ihr übernommen habe.

"Wie fühlst du dich?"

Mir schossen viele Beschreibungen durch den Kopf: Ich war wütend, enttäuscht und traurig zugleich. Aber das, was ich in diesem Moment am deutlichsten spürte, war das Gefühl allein zu sein.

"... einsam."

Mutter zog mich an sich heran und legte ihre Arme um mich. Ich vergrub mein Gesicht in ihrer Brust. Sie roch nach Kräutern: Lavendel und Eberraute, frisch und herb mit einen Hauch von Zitrone. Mutter hatte mir früh beigebracht die einzelnen Kräuter voneinander zu unterscheiden.

"Du bist nicht allein, Anouk. Die Welt um dich herum ist lebendig. Schau, siehst du den Vogel da drüben? Du hast ihn sicher nicht bemerkt."

Ich drehte meinen Kopf und sah zu dem hohen Schilf herüber. Dort saß ein kleines Vögelchen, eine Bartmeise, auf der Spitze eines Schilfrohres. In seinem Schnabel hatte es Nistmaterial gesammelt. Es war Frühling und die Brutzeit stand kurz bevor.

"Es sind nicht nur die Tiere, die die Götter mit Leben beseelt haben. Jeder Baum, jeder Strauch und jeder Stein ist lebendig, Anouk."

"Steine sind lebendig?", fragte ich ungläubig.

"Ja, auch die Steine."

Mein kindlich-naives Ich empfand in diesem Moment tatsächlich so etwas wie Reue gegenüber den Steinen, die ich wenige Augenblicke zuvor noch im Sumpf ertränkt hatte. Beschämt über mein Handeln, drückte ich mein Gesicht wieder an die Brust meiner Mutter.

"Du bist niemals allein. Wenn du ruhig bist und lauschst, kannst du die Vögel singen hören, den Atem des Windes auf deiner Haut spüren und den Herzschlag der Erde unter deinen Handflächen fühlen."

Mutter hob ihren Kopf an und sah zum Himmel hinauf.

"Und dann sind da noch die Götter, die auf uns hinabsehen und uns zuhören, Anouk."

"... aber sie antworten mir nicht!", protestierte ich.

"Sie antworten dir. Du erinnerst dich, was ich dir über die Zeichen erzählt habe?"

"Ja", gab ich kleinlaut zu.

"Eines Tages wirst du die Zeichen erkennen und sie verstehen."

Sie gab mir einen sanften Kuss auf den Haarschopf.

"Werde ich eines Tages auch Freunde haben?"

Mutter drückte mich zur Antwort einmal fest und schob mich dann von sich, um mir mit ihrem Ärmel die restlichen Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Ihr warmes, liebevolles Lächeln gab mir Hoffnung.

Hoffnung, die mir dieser Tage fehlt, wenn mich die Einsamkeit wieder einzuholen droht und ich mich fremd fühle unter den Menschen.

Ich vermisse dich, Màthair.


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Anouk: Gedanken - von Anouk - 02.11.2017, 21:44
RE: Anouk: Gedanken - von Anouk - 08.12.2017, 19:24
RE: Anouk: Gedanken - von Anouk - 16.02.2018, 15:17



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