Wahre Worte
#1
Die Ballade vom unglücklichen Ignaz
 
Eins der unterschätzten Wesen,
oft gejagt mit einem Besen,
ist die Ratte, schnell und fett,
kluges Tierchen, nicht adrett
 
Ignaz heißt ihr Baronet,
Öhrchen riesig, frisst gern Mett
Krönchen aus zwölf Kinderzähnen,
knabbert, heißt’s, auch gern an Venen
 
Der Kanäle mächt’ger Sohn,
erntet recht oft Spott und Hohn
von den dreisten Menschenkindern
die sein ratt’ges Werk behindern
 
Neugier ist der Ratte Pflicht,
anders auch bei Ignaz nicht
Doch was der Rattenfürst einst sah,
hält so mancher nicht für wahr
 
Denn er sah, was möglich ist,
wenn auf Vorsicht man vergisst
Wenn man dem traut, was man sieht
Und das Übel sucht, nicht flieht
 
Unheil kommt von bösen Händen,
und aus schlichten Gegenständen
Spiegeln darf man nicht mehr trauen,
sind sie auch hübsch anzuschauen
 
Spiegel können brechen
und die Menschen schwächen
Spiegel splittern, bitte sehr!
„Es ist sicher!“ gilt nicht mehr
 
Sechse kamen uns abhanden,
als sie urplötzlich verschwanden,
aus dem Bauch der Stadt geraubt
Hat die Vogtin das erlaubt?
 
Keineswegs, das lasst euch sagen,
bald schon hörte man die Klagen
Sechse fort, oh Gram, oh Kummer,
Halt! Ihr zähltet falsch die Nummer!
 
Es war’n sechse und ein kleiner,
ein ganz fell’ger, ein Unreiner,
Ignaz, Inbegriff des Nagers
war Teil des Vermisstenlagers
 
Dort, in dieser Spiegelwelt
lauert Angst auf Flur und Feld
Ängste bleiben dort nicht stumm,
sind solide, wandern rum
 
Ängste werden dort Gestalten,
die da ihres Amtes walten,
tun, worin sie wahre Meister,
Furcht verbreiten, dreist und dreister
 
Wer fürchtet nicht vor Bleichen sich
in diesen Jahren nach dem Lich?
Sie sind als Angst beliebt bei allen,
weil sie als Alptraum recht gefallen
 
Die sechs Verlor’nen fanden bald
umzingelt sich im Bleichenwald
und vor dem Todesschlunde fast
ist Nüchternheit kein guter Gast
 
So wurde ein Gelag’ beschlossen
das Unglück mit viel Schnaps begossen
Auf Tischen tanzt es sich so gut
es zählt nicht mehr, was man so tut
 
Ob man küsst nun oder singt,
ob man auf dem Boden ringt,
ob man schreit und ob man lacht,
oder sich zum Deppen macht.
Nichts davon zählt wirklich mehr
lauert schon das Bleichenheer
 
Es stirbt sich gut mit Schnaps im Blut
viel besser als mit wenig Mut
Doch ist hier fast vergessen worden
Auf Ignaz von den Rattenhorden
 
Denn Ignaz kam nicht mehr zurück
Die sechse aber hatten Glück
Man rettete ihr Leben dann
Wenn sie auch lallten, munkelt man
 
Und Ignaz flieht – damals wie heute,
vor seinen Ängsten, liebe Leute.
Es sind nicht Liche oder Bleiche,
es sind nicht indharimsche Scheiche.
 
Es sind nicht stärk’re, größ’re Ratten
oder ihn zermalm’nde Platten
Es sind nicht rumspaziern’de Bäume,
aus anderem Stoff sind Rattenträume.
 
Des Ignaz’ größte Angst ist klar
eine Wanderbesenschar
Solang ihn keiner holt von drüben
Wird er die Flucht wohl weiter üben
Ich packe meinen Koffer
Und ich nehme mit: nichts
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Wahre Worte - von asrai - 06.08.2017, 18:48
RE: Wahre Worte - von asrai - 06.08.2017, 18:54



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