Von der Macht der Feder (Mitmachthread: Forschungsgruppe "geborstenes Schwert")
#1
Am frühen Morgen des 24 Brachet durften Marktbeschicker, Händler, und die üblichen als Kundschaft getarnten Schaulustigen in Löwenstein ein eigenwilliges Schauspiel an der Vogtei bewundern. Die Türen öffneten sich, recht ungewöhnlicherweise für diese unheilige Stunde, da die ersten Sonnenstrahlen noch vor den Stadtmauern hingen und den Markt noch nicht getroffen hatten, und entließen... nun, man hätte es als Prozession beschreiben können. 

Voran ging die Schreiberin Strastenberg, blendend aufgemacht in einem beigen Ensemble mit gefiedertem Hütchen auf dem hochgestecktem Haar - die üblichen, obligatorischen Absätze gaben einen Marschtakt auf dem Pflaster vor. Ihr folgten, weniger blendend und vor allen Dingen weit weniger gut gelaunt, etliche Angestellte der städtischen Bürokratie. Ein jeder von ihnen trug gewichtige, bis zum Rand gefüllte Aktenfächer: Das herausschauende Papier war mal fast neu, mal gelblich und zerfastert, mal so alt, dass es dreckigen Lappen glich. 

Der Zug aus Beamten marschierte, dem Widerklang spitzer Absätze folgend, geradewegs in den "Löwen" herüber. Einige Minuten später verließen fast alle, bis auf den sonst beim Gerichtssaal positionierten Wachmann und die Schreiberin selbst, das Etablissement wieder, um murrend und schimpfend auf der Suche nach frühem Frühstück über den Markt zu schlürfen. Der Schankraum des "Löwen" würde sich dem Besucher unverändert präsentieren. Versuchte jedoch jemand, der nicht gerade in der Taverne wohnte, die Treppe hinaufzugelangen, würde er im oberen Saal auf eine Absperrung mit der Aufschrift "Zutritt nur für Befugte" und einen schlecht gelaunten Wachmann treffen, der recht genaue Vorstellung davon zu haben schieben, wer alles befugt war (die meisten waren es nicht). 

Fräulein Strastenberg derweil war nicht im Saal anzutreffen. Sie stand, das Federhütchen langsam in den handschuhbedeckten Händen drehend, im nochmals abgeschlossenen Arbeitszimmer des gleichen Stockwerks. Tatsächlich stand sie auf dem so gut wie einzigen Fleck, an dem man noch stehen konnte: Um sie herum türmten sich bis zur Decke Aktenfächer, Truhen, teils gar Körbe. Die meisten waren beschriftet: "Urkunden" war hier zu lesen, "Missiven" dort, "Grundregister" hier. Die meisten Begriffe tauchten, mit wechselnden Jahreszahlen versehen, mehrmals auf - am Häufigsten las man jedoch "Kopialbücher", "Zinsregister" und "Landtafeln". Auf dem Tisch vor der Schreiberin lagen zwei Stapel, bereits aus der Umklammerung von Holz alter Schränke herausgelöst. "Inventar" las sich auf dem Kleineren, das aus nur zwei, dafür umso gewichtigeren Wälzern bestand. "Annale" las sich auf den Büchern des Zweiten. Hier lagen genau 20 Bücher aufeinander, die Titel unterschieden sich allein in der Nennung des Jahres, vom Jahre 805 bis zum Jahre 825 reichend. 

Fräulein Strastenberg legte ihr Hütchen auf dem "Inventar"-Stapel ab und zog einen hübsch geschnitzten Flachmann hervor, der auch als überdimensionierte Parfumflasche hätte durchgehen können. Ein langer Schluck, der Blick galt dabei so nachdenklich wie hoffnungslos den zahllosen Stapeln. 

"Ich hasse das," murmelte das Fräulein, an niemanden bestimmten adressiert. Die ersten Sonnenstrahlen krochen durchs Fenster und beleuchteten hilfreich die Staubwolken über dem Schriftgut.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Von der Macht der Feder (Mitmachthread: Forschungsgruppe "geborstenes Schwert") - von Marie Philippa Strastenberg - 24.06.2017, 23:15



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste