FSK-18 Auf dünnem Eis
#17
„Ihr solltet Euch waschen, Anwärterin Stein. Ich weiß nicht, ob es Euch aufgefallen ist, aber Ihr seid gänzlich eingestaubt. Und Ihr stinkt zum Himmel.“

„Es ist mir aufgefallen, Novize Jeram.“

„Habt Ihr vor, dem Badehaus in absehbarer Zeit einen Besuch abzustatten?“

Sie sparte sich die Antwort. Schweigend passte sie sich Jerams Schritt an und warf ihm nur einen längeren, ausdruckslosen Blick zu, als er sich mit tadelnder Miene zu ihr umdrehte. Offenbar war Lan Parzer verlegt worden. Der Nortgarder Hüne führte sie tiefer in das Gewölbelabyrinth. Links und rechts säumten Zellen den schmalen Gang, der nur für eine Person durchgängig war. Die Anwärterin konzentrierte sich auf den Weg, verlor aber nach der siebten Ecke, um die der Wärter bog, die Orientierung. Nun war der Kerker wieder ausreichend ausgeleuchtet, was auf kooperative Gefangene schließen ließ. Keine Lichterziehungsmaßnahme war hier mehr notwendig. Flüchtig fragte Marit Stein sich, woher sie hier wussten, dass es Tag oder Nacht war. Das Essen konnte kein Maßstab sein. Der Brei, der für Gefangene gekocht wurde, war immer der gleiche, wie man von Novize Pollach hörte.

Die Schritte der Legionäre hallten dumpf nach, begleitet von Jerams Schlüsselbundgeklapper, und weckten manche der dösenden Inhaftierten. Die Anwärterin folgte Jeram um die nächste Ecke, die ausgemergelten, aufdämmernden Gesichter in einer größeren Zelle, gut erkennbar im Fackelschein, geflissentlich ignorierend. Die meisten Gefangenen lagen uninteressiert und weitgehend geräuschlos dahinvegetierend in irgendwelchen Ecken. Nur hier und da regte sich etwas, wenn jemand Abwechslung witterte und an die Gitter trat. Ein paar fordernde Rufe wurden laut: nach einer Hammelkeule, mehr Wasser, einem Richter, einer Vatin. Jeram reagierte auf keinen der Zurufe und machte sich nicht die Mühe, auf die Forderungen einzugehen. Mutlos wiederholte der Gefangene, der nach einem Richter verlangt hatte, seinen Wunsch. Er glaubte selbst nicht an dessen Erfüllung, das hörte man der verzagten Stimme an. Auf eine Erwiderung wartete er abermals vergebens. Stattdessen wandte Jeram sich um und versuchte es noch einmal:

„Ihr wisst doch, dass wir ein Badehaus haben? Es ist voller Zuber und sauberer Handtücher.“

„Bringt mich einfach zu dem Gefangenen. Wir müssen keine Konversation dabei führen. Es wäre mir sogar weitaus lieber, wenn Ihr einfach schweigen würdet.“

„Mir ist hier todlangweilig, Anwärterin. Also tut mir den Gefallen. Das Badehaus kennt Ihr?“

„Ich kenne es, aber manchmal gibt es dringendere Aufgaben, die einen davon abhalten, sich zu waschen, Novize. Können wir das Thema nun lassen?“

„Mithras weiß, was Falk an Euch findet. Euer überbordender Charme und Sinn für Humor können’s ja wohl kaum sein.“

„Seine Seligkeit.“

„Ja, Anwärterin. Seine Seligkeit. Danke, Anwärterin. Die Verbesserung war sehr nötig. Zu gütig von Euch.“ 

Die Zellen wirkten allmählich spärlicher besetzt, bis Marit niemanden mehr hinter den Gittern ausmachen konnte und der Novize sie an einem Gang leerer Zellen vorbeiführte. Das gefiel ihr wenig. Es war merkwürdig, es war ineffizient. Jeram schritt weiter, auch mit ihrem argwöhnischen Blick im Rücken. Warum einen Abstand zwischen Gefangenenzellen einhalten? Sie sah sich unauffällig nach Waffen um. Nichts. Natürlich nicht. Man wollte niemandem Gelegenheit bieten, sich im Gang an einer dekorativ aufgehängten Lanze oder einem stolz ausgestellten Hammer zu bedienen. Ihre eigene Rüstung und ihr eigenes Schwert verharrten ordentlich abgelegt in der Waffenkammer. Außer der mitgenommenen, dünnen Leinenkleidung, die ihr vor der Heuernte ausgehändigt worden war, trug sie nichts am Leib. Die kargen Gänge wurden von Fackeln erhellt. Sie wollte sich nach einer strecken, als Jeram das Ende eines Ganges erreichte. Die letzten beiden Zellen waren nicht einsichtig, ihr Inneres verborgen vor aller Augen hinter schweren Vorhängen. Dennoch löste die Anwärterin eine der Fackeln aus der Halterung, tat, als wollte sie den Gang nur weiter ausleuchten und blickte den Wärter fordernd an.  

„Da sind wir. Und jetzt bin ich wirklich mal gespannt, was an dem Flohhaufen da drin so interessant ist, dass sich heute alle um ihn reißen.“

Jeram zog den Vorhand ratschend beiseite. Das feiste Gesicht von Novize Pollach strahlte Marit entgegen. Er saß auf einem gefährlich wackligen Hocker neben dem im Stroh halb liegenden, halb sitzenden Lan Parzer, der die Augen geschlossen hatte, und las in einem Buch, daneben stand ein Teller mit einem überdimensionalen Kuchenstück und einem Törtchen. Beides hatte kaum Platz auf dem Porzellan. Sie musste zweimal hinsehen und begann, ihn anzustarren.

„Was tut Ihr hier, Novize Pollach?“

Parzer fuhr auf, als Marit Stein sprach, und stierte die Anwärterin an. Sie konnte förmlich zusehen, wie der Hass ihm blitzartig bis in die Pupillen fuhr.

„Ich kümmere mich um einen Gefangenen, Anwärterin Stein. Was ist mit Euch? Noch immer keinen Zuber gesehen?“

„Das scheint in den Augen aller Priorität zu haben, Novize. Ich habe Wichtigeres zu tun. Habt Ihr seinen Bolzen herausgezogen?“

„Aye. Wir können doch nicht zulassen, dass sich sein Fuß entzündet. Wertvoller Fang und so weiter. Wichtiger Agitator, Mondwächtergezücht, etcetera! Steht schon alles in seinem Akt.“

Pollach schmatzte, tätschelte Parzer mit seinen Wurstfingern die Wange, was der sich widerstandslos gefallen ließ, griff nach einem perfekt gerundeten Törtchen, das neben ihm auf einem Teller thronte und biss dreimal kurz hintereinander ab, schluckte, ohne zu kauen, musterte Marit Stein noch einmal mitleidig und schwadronierte: 

„Ah, Sauberkeit und Ordnung sind die halbe Miete! Wir sind durch eine harte Schule gegangen, Anwärterin. Damals gab es keine Flecken, keine verstaubten Hosen und keine dreckigen Gesichter. He, Jeram, wie war das gleich damals, als du mit dem Rußfleck am Kinn beim Abendgebet gesessen bist?“

Novize Jeram lehnte sich an die gegenüberliegende Gittertür, sichtlich begeistert über die Aussicht, in Nostalgie verfallen zu können mit jemandem, der ihm tatsächlich gewillt war, zuzuhören. Oder im Fall des Gefangenen auch nicht anders konnte.

„Ah, die Ordensmeisterin hat mich für ein Jahr zum Kamindienst verdonnert, war andauernd schwarz wie ein verdammichter Indharimer, aber hatte mir trotzdem die Hände zu schrubben, bis sie rosa waren. Das waren noch Zeiten, eh? Muss noch vor Strastenbergs Rausschmiss gewesen sein. Das war ‘ne Kammer, Anwärterin. Hättet Ihr mal sehen sollen. Wir war’n berühmt-berüchtigt. Pollach nannten sie Gabel, Strastenberg Schwert und ich war Keule. Hat mir gefallen. Keule! Das waren noch Zeiten! War besser als hier unten herumzulungern. Für ‘ne Weile waren wir unterwegs in ganz Silendir, um zu missionieren. Ihr glaubt ja nie, was uns passiert ist in...“

Sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Als nächstes ging es um Heldentaten - Konvertierung eines gesamten Dorfes, erschlagene Unholde, Prozession der drei Helden durch die Straßen, ohnmächtige Maiden, händeküssende Matronen, weinende Bürgermeister. Während Jeram in der Vergangenheit schwelgte und Pollach genüsslich sein Törtchen aß und wohlwollend grinste, korrigierte Marit Stein das Bild, das sie zuletzt von Lan Parzer gehabt hatte. Der Fuß des Gefangenen war versorgt worden, der Bolzen entfernt. Er trug saubere und weniger lumpigere Kleider, hatte offenbar im Gegensatz zu ihr einen Zuber gesehen, und obwohl er nicht den robustesten Eindruck machte, schien er die Gesellschaft von Novize Pollach keinesfalls furchteinflößend zu finden. Die Stimme kippte fast, als Lan Parzer unvermittelt Worte ausspie und damit Jerams Redefluss unterbrach:

„Was tut Ihr hier, Anwärterin? Noch nicht genug gefoltert? Ihr müsst Euch allmählich jemand anderen suchen, mir gehen die gesunden Gliedmaßen aus.“

Jeram und Pollach sahen sich an, dann blickten sie zeitgleich zu Marit. Diese zwang ihre Gesichtszüge in die Aussagelosigkeit:

„Ich möchte mit Euch sprechen, Parzer. Es gibt etwas, das Ihr für die Kirche tun könnt.“

„Da schneid ich mir lieber den Arm mit einer rostigen Schere ab. Langsam.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, setzte sich gerade hin und spuckte in ihre Richtung. Ein großer Pfropfen landete vor ihren Füßen.

Sie ließ sich nicht beirren und bemühte sich um eine sachliche Tonlage: „Ihr bekommt auch etwas von.. uns.“

Erst wollte er noch einmal spucken, rotzte hoch, dann wog er ab, suchte Rückhalt in Novize Pollachs Blick. Der hob die Schultern, schaufelte sich Kuchen in den Mund und bot dem Gefangenen eine Gabel voll an. Parzer schnaufte, schüttelte den Kopf und blickte prüfend zur Anwärterin:

„Was wollt Ihr, Stein?“

„Sagt mir, wohin jemand, der zu Morrigús Armee gehört, fliehen würde. In einer Notlage.“

„Ich will meinen Druiden sprechen. Unter freiem Himmel. An einem Schrein. Allein.“

„Ihr könnt ihn sprechen. Hier unten. Unter Aufsicht.“

„Mieser Handel.“

„Nehmt ihn oder vermodert.“

Wieder ein Blick zu Pollach, als wollte er sich dessen Zustimmung versichern. Marit Stein verstand es nicht. Und sie hasste es, Dinge nicht zu verstehen.

„Was wird hier gespielt, Novize Pollach? Ihr kennt den Gefangenen?“

„Ah, Anwärterin, Euch bleibt auch nichts verborgen, eh? Aye, wir kennen uns.“

„Geruht Ihr, zu sagen, woher?“

Pollach schaufelte den letzten Kuchenrest zwischen labbrige Lippen und schloss kurz die Augen. Klein und wach saßen sie zwischen Fettpölsterchen eingeklemmt und beäugten die Anwärterin eine Weile. Jeram lehnte nach wie vor am Gitter, begierig darauf, dem Gespräch zu lauschen. 

„Jede Familie hat so ihre schwarzen Schafe. Wir sind uns nie ganz einig gewesen, wer das schwarze und wer das weiße ist, Lan und ich. Um genau zu sein, sind wir noch immer in Debatte darüber. Ich werde Euch aber als Erste informieren, wenn ein Urteil steht. Darf ich vorstellen: Lan Parzer, seines Zeichens abtrünniger Pollach. Er musste den Namen wechseln. Ihr versteht – unangenehme Fragen.“

Sie packte die Fackel fest. Sehr, sehr fest.
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
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