FSK-18 Auf dünnem Eis
#16
27. Ernting, abends

Der Zweck ihres Vorhabens drohte der Anwärterin zu entgleiten, als sie die Tür zur Vorbereitungskammer aufzog, in der sie vor kurzem ein goldenes Tablett mit Hilfsmitteln versehen hatte. Modriger Kellergeruch stieg ihr als Schwall in die Nase. Heftig flammte der Wunsch in ihr auf, auf dem Absatz wieder umzudrehen. Sie hatte an diesem Morgen hier gestanden und Werkzeuge geordnet, sie hinuntergetragen und an Parzer angesetzt. Es kam ihr absurd vor. Nun war kein einziges der Instrumente zu sehen, nicht einmal ein Span. Die Unzahl an Schubladen an der Wand verbarg sämtliche Werkzeuge der Pein. Die nüchterne Kammer hätte, in ihrer geschäftig aussehenden Ordnung, schubladenweise Stoffe beinhalten können, wäre der penetrante Geruch nicht gewesen. Erde, schieres Vergessen und Auslöschung. Wer in den Zellen eine Etage tiefer landete, sah das Tageslicht selten wieder. Wenn je wieder ein Sonnenstrahl auf sein Gesicht fiel, handelte es sich entweder um eine Verhandlung, um zwanzig Schritte bis zum Scheiterhaufen oder eine kurze Gegenüberstellung, damit ein Übeltäter vor Zeugen geschleppt werden konnte. Danach: ein Stoß zurück ins Nichts oder in den Tod. Nach Wochen im Kerker war der Unterschied nicht mehr so groß. Wer ihn verließ, sah dem wandelnden Tod ohnedies verblüffend ähnlich.

Es war Anfang Wandelmond gewesen. Ein Wurf Mondwächter war im Kerker eingesessen. Nach einer durchzechten Nacht in Guldenachs Vergnügungsviertel hatten sie die Idee geboren, die Tempelmauer zu beschmieren, die Obersten der Silendirer Kirche mit abwertenden Namen zu versehen, Mithras’ Namen zu beschmutzen. Man hörte Gerüchte danach. Familien seien still aufmarschiert, allesamt mit hängendem Kopf, die man nicht in den Tempel ließ. Ein Stadtrat sei gekommen, der um Aufklärung gebeten habe, mit dem Hut in der Hand und gebeugter Haltung vor Hermeno Falkner, Gesine Behringer und Laurenz Falk, mit nervösen Blicken, ein kleines, verhutzeltes Männchen vor großen Männern und Frauen. Das Schweigen im Saal, das die hervorgewürgten Bitten erstickte, das sich verdickt haben musste, bis es nicht mehr zu durchdringen war und der Stadtrat unverrichteter Dinge abziehen musste. Flüstern, von Bett zu Bett im Legionsschlafsaal, anerkennend bei manchen, furchtsam bei anderen. Man munkelte, die vier Querulanten seien als nächstes in einen Hungerstreik getreten, hätten den Aufstand in ihren winzigen Zellen geübt. Kein Licht mehr für die Mondwächter, so die Order von oben. Wer Mithras so verachtete, seine Gaben von sich stieß, dem sei seine erhellende Flamme verwehrt. „Sollen sie ihre Erdgötter anrufen da unten!“, raunte ein Novize gerade einem anderen zu, als Marit einmal in die Waffenkammer getreten war, „ihre heiße Sulis sendet gewiss Licht, wenn sie nur laut genug schreien!“ Das herbe Auflachen des anderen blieb ihr lange im Gedächtnis. 

Nacheinander seien die vier umgefallen, tuschelte man sich zu, hätten um Gnade gewinselt, wenn einmal am Tag jemand Essen hinstellte, hätten tränenreich um eine Fackel gebeten, nur eine, schließlich nach einer einzigen Kerze geschrien, bis am Ende des Wonnemonds vier jämmerliche Gestalten vor versammelter Kirche über die untersten Tempelstufen krochen, Mithras’ Namen lobten, mit krächzenden Stimmen, ohne Verstand. Diesem letzten Spektakel hatte Marit beigewohnt, war wie die anderen hinter Falkner, Behringer und Falk in Reih und Glied auf den Stufen gestanden, hatte auf die ausgemergelten Gefangenen in ihren groben Roben hinuntergeblickt als Teil einer undurchdringlichen Wand aus starken Körpern, aus glänzender Bronze, aus unbeirrtem Glauben. Talpa behauptete felsenfest, danach seien die Aufrührer in ein Tollhaus eingeliefert worden, eins am Meer mit ausladenden Fenstern, eins, in dem das Licht sich abends besonders lange in den Räumen hielt – ein Gnadenakt Hermeno Falkners. Novize Pollach winkte ab, gabelte einen zu großen Bissen Karamelltorte auf und versicherte ihnen, Laurenz Falk hätte die vier wegschaffen und über die Grenzen nach Servano bringen lassen, während Pentos gänzlich überzeugt war, sie seien wieder in den Kerker geworfen worden und dort an ihrem Elend verendet.

Die Enteignungen von Mondwächtern nahmen danach zu. Man sah es an dem regen Treiben im Hof, den herbeizuckelnden Wägen, den geschäftigen Novizen, die mit Listen am Vorplatz standen und dokumentierten. Nach den vieren war der Fackelschein im Kerker Tag und Nacht der gleiche, die Zellen zwar überbelegt, die Gefangenen aber dumpfer und serviler. Das statuierte Exempel wirkte. Pentos schwor darauf, Schlafmohn in den Brei der Gefangenen zu mischen, wenn er dereinst Novize werden würde und Dienst im Kerker leisten musste. Er war nicht der Einzige, es gab einige Novizen, die das Geschrei und das Jammern so auf ein erträgliches Maß herunterdämpften. Es störte den Fluss des Kerkeralltags auch nicht, wenn Gefangene eine Weile den Mohnbrei verweigerten. Sollten sie, sie hatten immer die Wahl zwischen Hunger und wattiger Benommenheit. Die meisten kamen wieder zur Besinnung und nahmen ihre Löffel spätestens nach drei Tagen wieder auf. Die wenigen, die es durchhielten, bewiesen niemandem außer sich selbst etwas. Dann starben sie vielleicht mit starkem Willen – sonst hatten sie wenig von ihrer Verweigerung.

Marit Stein musste den Namen vor sich her prügeln, immer wieder. Lan Parzer. Wenn jemand wusste, wohin ein verfolgter Mondwächter aus Morrigús Armee flüchten würde, dann der geschundene, gefolterte Lan Parzer. Der einzige Anhaltspunkt. Sie korrigierte sich mitleidslos. Von ihr geschunden. Von ihr gefoltert. „Es war Falks Wille!“, wandte eine zaghafte Stimme ein. „Und deine Hand“, widersprach ihr eine kältere. 

Ihre Hand stieß die niedere Türe, die letzte vor dem Kerker, kräftig auf. Das Holz krachte gemartert auf Stein, ein Echo hallte nach. Kein Zögern mehr. Zögern konnte sie sich nicht leisten. Wer einmal foltert, kann auch zweimal foltern. Wenn Aurel Behringers Flucht glückte, wäre das eine Schmach für die gesamte Kirche. Eine gerechte Strafe konnte ihn nur ereilen, wenn man ihn zurückbrachte. Alles andere schob sie beiseite. Alles andere war irrelevant. Warum sie Falk nicht längst informiert hatte? Warum sie nicht einmal die Ordensmeisterin einweihte? Was mit Aurel Behringer geschehen würde? Fragen für später. Fragen für andere.

Die nächste Stufe hinunter schien weit entfernt, einen breiten Abgrund weit. Die letzten Schritte, dann ein grober Tisch, ein Stuhl, ein dösender Wärter, der bei ihren Schritten den Kopf hob. Novize Jeram – ein Nortgarder aus einem winzigen Dorf nah der Zwillinge. Anwärter wurden hier unten nicht eingesetzt und kein Novize tat länger als zwei Wochenläufe Dienst. Die Führungsriege achtete darauf, sie nicht über das Maß hinaus in den Tempelgedärmen vermodern zu lassen. Der Wärter entbot Marit Stein einen stoffgedämpften Kriegergruß, indem er sich und hernach die Faust erhob, diese gegen sein Herz drosch. Dicke Wolle bremste den Gruß. Die Novizen trugen keine Rüstungen hier unten, wenn Dienst zu verrichten war, sondern gefütterte Wappenröcke. Was brauchten sie eine Rüstung, wenn keine Gefahr zu befürchten war? Wenn schwere Gitter längst Fehlgegangene von Erleuchteten trennten, wenn Novizen die Herren über Kommen und Gehen waren und es in ihrer Macht lag, Fackeln zu entzünden oder zu löschen? 

„Anwärterin Stein? Was ist Euer Begehr?“

Herrisch sein. Bestimmt sein. Mehr als sonst: „Seine Seligkeit Falk schickt mich. Wir haben weitere Fragen an Lan Parzer.“

Der Novize zog die Lippen in ein schiefes Halbgrinsen: „Wir, wie?“ Er schmatzte einmal, musterte sie von oben bis unten. 

Marit Stein regte sich nicht, war es zu gewohnt und schaute nur abwartend auf eine Stelle über seiner Gugel. Natürlich hatte Jeram die Gerüchte auch gehört. Vielleicht fragte er sich, warum ein Erzpriester seine Gespielin zu einem Gefangenen schickte anstatt in eine helle, freundliche Schneiderei in Guldenachs noblen Straßen, wo man ihr rüschige Kleider nähte, die sie dann nur heimlich tragen konnte. 

„Habt Ihre Seligkeit wohl verärgert, wie? Na dann fragt, ist ja nicht so, als wär er beschäftigt. Oder als wär ich es. Drei Tage noch, dann ist mein Dienst vorbei hier, Mithras sei Dank. Ihr solltet Euch weiterhin mit Falk... gutstellen.. dann steckt man Euch vielleicht nicht in dieses elendige Loch.“ Marit Stein entschied sich, zu schweigen. Novize Jeram stemmte seinen massigen Körper auf. Der Schlüsselbund an seinem Gürtel klapperte schwach. 

„Mitkommen, Anwärterin.“
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
3. Vor der Lichtwache - von Marit Stein - 11.04.2017, 13:13
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 01.06.2017, 01:31
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 04.08.2017, 11:52
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 06.08.2017, 16:11
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 17.08.2017, 20:10
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.08.2017, 12:20
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.12.2017, 18:22
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.12.2017, 21:03
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 31.01.2018, 22:58
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 13.02.2018, 23:44
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 23.02.2018, 01:27
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 16.04.2018, 21:06
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 27.05.2018, 12:09
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 22.06.2018, 18:58



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste