FSK-18 Auf dünnem Eis
#15
27. Ernting – Abends 

Das Badehaus der Silendirer Kirche lag einen kurzen Fußmarsch abseits vom Tempel, an einem schmalen Fluss, der sich von der Bucht von Silendir aus beharrlich ins Landesinnere vorgeschoben hatte. Man munkelte, selbst Fürsten besuchten das prunkvolle Badehaus ab und an, wenn ein Besuch aus fremden Lehen anstand. Es ragte langgezogen und sandsteinfarben aus einem wohlgepflegten, grünen Rasenmeer, das jeden Morgen sorgfältig gewässert wurde, wenn der Regen, wie für Silendir typisch, im Sommer wochenlang ausblieb. Auf der anderen Seite des Flusses wurde Korn angepflanzt - eine Idylle, wie ein Aushängeschild für das goldene Lehen selbst.

Das hohe, sandfarbene Gebäude konnte mit einem reichverzierten Vorraum und zwei separaten Baderäumen aufwarten. An einer Längsseite und den beiden Breitseiten des Vorraums verlief eine lange Eichenbank, fast schwarz geworden mit der Zeit, auf der man zu warten hatte, bis ein Zuber freiwurde, idealerweise ins Gebet vertieft. Die andere Längsseite war reichverziert mit einem Fresko zum Wirken der Alina Hamrich, das nur von den zwei Türen unterbrochen wurde, die in die Badebereiche führten – je einer für Frauen und Männer. Das Motiv des Freskos war fast perfide gewählt, bedachte man das Zielpublikum. Eine ruhige Seenlandschaft entfaltete sich im Hintergrund. Der Vordergrund wurde vom Kern der Hamrich-Legende illustriert. Gemäß Alina Hamrichs Leben zeigte die Frauenseite eine gerüstete Gestalt, deren langes Haar unter dem offenen Helm hervorquoll – künstlerische Freiheit, kein Ordensmeister in der langen Legionsgeschichte hätte so eine Unvorsicht je zugelassen. Alina Hamrich streckte die Hand nach dem König aus, den zu beschützen sie geschworen hatte, erreichte ihn aber nie. Passenderweise drehte sein freskohaftes, gekröntes Ebenbild ihr den Rücken zu und nahm sie nicht einmal wahr. 

Im Zuber angelangt bot sich den Badenden ein Bild der absoluten Ruhe und ermöglichte Kontemplation. Der Blick aus den raumhohen Fenstern, die im Sommer weit geöffnet wurden, fiel auf den Fluss, das Kornfeld und den Himmel. Die Zuber, je zehn an der Anzahl, verliefen ebenfalls an der Längsseite des Raumes. Marit war schon beim ersten Besuch nicht umhingekommen, diese geschickte Zuberpositionierung zu bemerken. Badenden wurde nicht nur ermöglicht, sich in die Betrachtung der Natur zu vertiefen und zu säubern – der gelenkte Blick nach draußen sorgte auch dafür, unbotmäßiges Interesse für andere Badende prophylaktisch gering zu halten. Zwar hätte man auch im Fluss baden können, doch wurde eine Flussbadepraxis allgemein als provinziell belächelt. Kirchenmitglieder waren angehalten, auch im Bereich von Badegewohnheiten Ordnung walten zu lassen. Wie die Erdgötteranbeter am Ufer herumzustaksen, zwischen Ästen und Laub, wurde als nicht standesgemäß angesehen. Zudem waren die Zuber mit Sägespänen bestreut, um Interesse an der eigenen Anatomie zu unterbinden – der Fluss hingegen plätscherte auch im Sommer kalt und allzu klar vor sich hin.

Zwei Priesternovizen führten angeregt ein Gespräch über die Bedeutung der rituellen Reinigung, als Marit Stein eintrat und direkt auf den Baderaum der Männer zusteuerte. Etwas regte sich in ihrem Rücken – ein Blick über die Schulter verriet, dass einer der Novizen eben den Kopf gehoben hatte und protestierend eingreifen wollte, Regelübertritt witternd. Ehe er den Mund aufbekam, rannte Pentos Ruthe in die Anwärterin hinein. Feixend und elysiumschreiend sauber verschränkte Ruthe die Arme vor dem Oberkörper und versperrte ihr den Weg in den Männerbaderaum.
 
„Ist Behringer da drin?“
 
„Woah. Hätte dir’n bisschen mehr Grips zugetraut, Steinchen. Wenn de einen Blick riskieren willst, vergiss den Behringer, is’ ja nix dran an dem. Sag’s nur, wenn dich der Hafer sticht, dann fällt die Hose, so schnell kannste gar nich' schauen. Kostet dich halt 10 Schilling, isses aber wert, kannste glauben! Am Fluss unten isses nett, wie wär's?!“
 
Die hochgeistigen Novizen wandten sich wieder ihrem Gespräch zu, beruhigt, dass jemand die Sache in die Hände genommen hatte, wenn auch essigsauer ob der Art und Weise. Als die Tür zum Männerbaderaum sich noch einmal öffnete, verschwanden sie eilig dahinter und ließen die beiden Anwärter allein im Vorraum zurück. Im nächsten Augenblick drosch Pentos’ nasses Handtuch gegen Marits Beine. Ein selbstzufriedenes Grinsen, das sie ihm gerne aus dem Gesicht geprügelt hätte, beherrschte seine Züge. Er schnalzte mit der Zunge.
 
„Hab’s immer noch drauf. Erwischt, Steinchen.“
 
Sie war todmüde, nach wie vor staubig von Kopf bis Fuß von der Heuernte, hatte Blasen an den Händen und konnte kaum mehr stehen. Aber nie war ihr Bedürfnis so groß gewesen, ihre Hände um den Hals eines anderen zu legen und zuzudrücken, ohne noch einmal über die Folgen nachzudenken.
 
„Was schauste jetzt wie ‘ne Kuh, wenn’s donnert?“
 
Zange. Fackel. Holzpflöcke. Ein kleiner, goldener Hammer. Zange. Fackel. Holzpflöcke. Ein kleiner, goldener Hammer. Es war wichtig, daran zu denken, wie klein der Hammer war.
 
„Steinchen?“
 
Sie riss den Kopf hoch, die Augen rot vom Heustaub, das Gesicht so ausgetrocknet, als wollte die Haut zerreißen und tat einen Schritt auf ihn zu, ohne die Hände zu erheben. Er verzog irritiert das Gesicht und wich unwillkürlich zurück, die Wand im Rücken, das nasse Handtuch baumelte nutzlos in seiner Hand. Ihre Stimme war ein Hauch.
 
„Weißt du, warum ich jeden Abend zu Falk gehe, Pentos?“
 
Sein Körper war schneller als sein Geist. Während ersterer instinktiv zurückwich, glaubte letzterer im Wechsel der üblichen Anrede eine Annäherung zu sehen. Sie las es in seinem tumben Auflachen.
 
„Noch nich’, aber etwas sagt mir, du brennst drauf, es mir zu sagen? Weiß da auch ‘nen passenden Ort am Ufer, hübsch versteckt, dann kannste es mir zeig..“
 
Sie packte ihn am Hemdsärmel und zerrte ihn nach draußen, unter eine nahe gelegene Trauerweide, deren Blattwerk lasch und ermattet herabhing. Dort angekommen gab sie ihm einen Stoß und richtete sich zu voller Größe auf, die Augen brennend auf ihr Gegenüber gerichtet.
 
„Falk bringt mir nützliche Dinge bei. Weißt du, was aus Lan Parzer wurde? Nein? Er verfault im Kerker, vielleicht ist ihm der Fuß schon abgefallen. Falk lehrt mich, was ein Körper aushält. Wenn du mir nicht auf der Stelle sagst, wo Behringer steckt, übe ich an dir weiter. Und eh du den Mund aufmachst, damit noch mehr Pferdemist hervorquillt: Ich finde einen Grund, es mit dem Segen der Kirche zu tun, so wahr mir Mithras helfe. Wird nicht schwierig, so verderbt wie deine Seele ist. Ich behaupte einfach, du vögelst deine Schwester und hast ihr schon ein Kind gemacht. Dann schützt dich auch dein Name nicht mehr.“
 
„Verdammich’ was is’n dir für ‘ne Laus über die Leber gelaufen? Is’ ja schon gut. Trink mal was eh, und kühl dich ab.“
 
Abwehrend hatte er die Hände gehoben und war aus ihrem Fokus einen Schritt zur Seite getreten. Kapitulation. Immerhin.
 
„War nur kurz hier, der Goldjunge. Hat sich nich’ mal innen Zuber setzen wollen. War’n Andrang hier vorher, wollten ja alle den Staub loswerd’n. Hab ihn aber innen Fluss springen sehen. Der war drauf, hättste mal sehen sollen, ganz kirre von der Sonne. Ein Grinsen als gäbs ‘nen Fass Met umsonst. Seitdem hab ich ihn nich‘ gesehn. Schätze mal, er wird langsam zurück sein, is’ ‘ne gute Stunde her un‘ wird ja schon finster.“
 
Sie wich zurück, die Fäuste geballt.
 
„Du wirst mir helfen, ihn zu finden.“
 
„Steinchen, glaub du hast ‘nen Sonnenstich, setz dich mal hin.“
 
Aggressiv drückte sie ihn gegen den Stamm, der Unterarm fand seine Halsbeuge, ehe er noch reagieren konnte und lehnte sich mit dem gesamten Körpergewicht gegen ihn. Aufkeuchend packte er ihren Arm und schob ihn nach kurzem Ringen ungehalten weg. 
 
„Was beim Abyss is‘ los mit dir?“
 
„Du verstehst nicht.“
 
„Ich versteh, dass du den ganzen Tag geschuftet hast, und dass du ein Bad, Essen und ein Bett brauchst, sonst mal gar nix.“
 
 „Ich muss ihn finden.“
 
„Du findest ihn nich‘ schneller, wenn du mich nun angehst. So wichtig kann’s schon nich’ sein, eh? Wasn los hier? Will ihm seine Tante hübsche Zöpfchen flechten? Braucht Falk ‘nen Schemel zum draufsetzen? Würd mal sagen, da kniet sich auch wer anderer für ihn hin. Madita Taler wär ‘ne Kandidatin.“
 
„Pentos.“ Sie fasste ihn um die Schultern. „Wenn dir Kameradschaft irgendwas bedeutet, dann tu jetzt, was ich dir sage. Hol die Hunde aus dem Zwinger und Proviant aus der Küche. Sag, es sei Novize Pollachs Order. Behringer ist nicht zurückgekommen. Du brauchst nicht nachsehen. Ich weiß es. Er ist geflohen. Aber wir beide, wir werden ihn finden.“
 
Er wollte es weglachen. Er wollte sie als nicht ernstzunehmend fortschieben. Er wollte es nicht wahrhaben. Bevor ein weiteres Wort seinen Mund verlassen konnte, hielt sie ihm die Bronzemünze hin. Nicht einmal ein Pentos Ruthe brauchte daraufhin noch viele erklärende Worte, aber jedes hervorgestoßene war eins zuviel, eines, das alles in einen noch zäheren Rhythmus stieß, verlangsamte. Die Ungeduld machte sie kurzatmig. Kopfschüttelnd drehte Pentos Ruthe die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger.
 
„Der Goldjunge – ein Mondwächter. Und dann noch einer, der mit den richtig großen Fischen schwimmt. Attentat auf Hermeno Falkner, was? Der Hundsfott, steckt der wirklich mit so Gesindel wie Parzer unter einer Decke, man möchte’s nich‘ glauben...“
 
„Wir führen ihn seiner gerechten Strafe zu. Aber Pentos, du musst dich jetzt bewegen. Ich kann die Hunde nicht allein mitnehmen.“
 
„Weiß nich’, ob du’s bemerkt hast, aber es wird dunkel, Steinchen.“
 
„Das ist egal. Es ist fast Vollmond. Wir nehmen Fackeln.“
 
„Sie werden nach uns fragen.“
 
„Nicht bis zur Bettruhe. Bis dahin sind wir schon weit fort. Und wenn wir ihn wiederbringen, kommen wir als Helden zurück.“
 
„Wenn er uns nich’ abmurkst.“
 
„Schafft er nicht. Geh jetzt. Wir treffen uns wieder hier.“
 
„Was springt für mich raus?"

„Heldentum ist nicht genug?"


„Steinchen, komm schon. Bringt mir doch nix.“

„Ich lob dich ins Elysium und bitte Falkner um eine Position für dich, in der du viel kaputtschlagen kannst und den ganzen Tag schwitzt. Ohne weiteren theoretischen Unterricht.“

„Steinchen. Marit. Marit-Schätzchen. Da geht noch was."

„Ich geb dir einen Gulden."

„Schau an, sie ist reich. Gut.. auf die Hand gespuckt.

„Du bist widerlich.“

„Los, sonst geh ich nirgendwohin.“

„Meinethalben, wenn dich das endlich in Bewegung bringt!“

„Gut. Was tust du jetzt?“
 
„Parzer besuchen. Waffen holen.“
 
Er schwieg kurz. Sie konnte ihn nur noch schemenhaft ausmachen.
 
„Hast du Angst vor Falk, Steinchen?“
 
Sie wollte zuerst so tun, als hätte sie ihn nicht gehört, schon hatte sie ihm den Rücken zugedreht.

„Unendliche.“ 
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
3. Vor der Lichtwache - von Marit Stein - 11.04.2017, 13:13
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 01.06.2017, 01:31
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 04.08.2017, 11:52
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 06.08.2017, 16:11
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 17.08.2017, 20:10
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.08.2017, 12:20
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.12.2017, 18:22
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.12.2017, 21:03
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 31.01.2018, 22:58
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 13.02.2018, 23:44
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 23.02.2018, 01:27
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 16.04.2018, 21:06
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 27.05.2018, 12:09
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 22.06.2018, 18:58



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste