FSK-18 Auf dünnem Eis
#14
27. Ernting, noch später
 
„Hier. Trinkt etwas.“ 
 
Marit Stein dämmerte in einem süßen Zustand zwischen Erschöpfung und Halbschlaf dahin, zu müde, die Augen aufzuzwingen, zu müde, aufzustehen ja, selbst zu müde, die Finger zu öffnen und die angebotene Flasche zu nehmen. Ihre Hände fühlten sich an, als wollten sie sich nie mehr öffnen nach all den Stunden, in denen sie die Heugabel zu fest gepackt hatten – ein typischer Anfängerfehler, wie Novize Pollach nicht müde wurde, festzustellen. Die Wurzel ihrer Pein lag harmlos neben ihr auf der Erde, die gebogenen Spitzen gen Boden gerichtet, damit keiner irrtümlich drauftreten konnte, wie Pollach verlangt hatte. Erst als Aurel Behringer ihr die kalte Steingutflasche mit Nachdruck in die Hand schob, öffnete sie immerhin die Lider, hob sie an die spröden Lippen und trank.
 
Anwärter Behringer hatte den strohblonden Schopf gegen den Baumstamm sinken lassen und betrachtete das Feld aus staubroten, stolzen Augen, ein Knie angezogen, das andere Bein ausgestreckt. Zufrieden kaute er auf einem Halm herum, der ihm aus dem Mundwinkel ragte und brachte es fertig, auszusehen, als sei er kein bisschen mitgenommen, seinem Spitznamen wieder einmal alle Ehre machend. 
 
„... sechzehn, achtzehn, zwanzig.“
 
Behringers Augen zogen eine unsichtbare Linie über das Feld, als er die gebundenen Heuballen zählte. Es ließ sich nicht mehr länger aufschieben. Die gefasste Entscheidung ließ sie jäh wach werden, als hätte man ihr einen Kübel Eiswasser über den Kopf geschüttet. Anwärterin Stein ließ das schale Wasser aus der Steingutflasche unter seinem kurz herübergeworfenen mitleidigen Blick weiter in ihre Kehle fließen, bis die Flasche leer war, stellte sie beiseite, schob die Hand in die Hosentasche, holte die Bronzemünze heraus, die der Kern des Übels war und ließ die geballte Faust vor seinen Augen aufspringen.
 
„Was ist das, Anwärter?“
 
Als hätte Marit Stein den Vorhang einer Theaterbühne abrupt einen halben Tag vor der offiziellen Generalprobe aufgezogen, offenbarte sich Behringers Innerstes wie ein unfertiges Bühnenbild, in dem die Stühle noch umgedreht auf dem Tisch abgestellt sind, der Teppich zusammengerollt an der Wand lehnt und die Requisiten kreuz und quer am Bühnenrand verteilt liegen. Da war keine Zeit, sich etwas zurechtzuzimmern. Während er noch um Fassung rang, den Kopf hurtig senkte und flink so tat, als betrachtete er die Münze wie jemand, der sie zum ersten Mal sah, konnte sie förmlich zuschauen, wie er unruhig und fahrig nach der erstbesten glaubwürdigen Lüge haschte. Nervosität kroch ihm in die Poren und brach sich Bahn im erratischen Flattern der Lider.
 
„Soweit ich sehe, eine Münze.“
 
Es gelang ihm nicht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten, auch wenn er sich um einen spöttischen Unterton bemühte und verkrampft versuchte, Herr der Lage zu bleiben. Seine Mitanwärterin ließ die Hand ruckartig zuschnappen, ballte die Faust und schüttelte den Kopf, im Aufspringen die Heugabel packend.
 
„Stell dich nicht dümmer als du bist. Diese Münze gehörte Lan Parzer. Dir ist vollkommen klar, wer das ist.“ 
 
Sie stopfte die münzhaltende Faust in die Hosentasche, nutzte die Heugabel wie einen Speer, stieß das stumpfe Ende gegen den Boden und machte sich nicht die Mühe, ihrem Ton auch nur den Anschein einer Frage zu verleihen. 
 
„Dir ist klar, wer das ist, weil du einer von ihnen bist. Ein Soldat in Morrigús Armee. Ein Mondwächter. Ein schändlicher, räudiger, gewissenloser Verräter.“ 
 
Verachtung schlug ihm in ungefilterter Form entgegen, jedes Wort ein Dolchstoß. Seine Gegenwart war ihr schlagartig unerträglich. Er hatte seine Haltung zwar nicht merklich korrigiert, aber sie nahm die subtile Veränderung wahr: im Straffen der Schultern, im Anspannen der Kiefermuskeln, in der bemühten Arglosigkeit in seinen Augen. Es war die gespielte Harmlosigkeit einer Schlange, die die Zahnlosigkeit nur vortäuscht und sich um den Hals wickelt, als wolle sie ihn nur liebkosen, nur um im passendsten Moment die Giftzähne in die Halsschlagader zu schlagen. Den Kopf in den Nacken legend, fixierte er sie, atmete tief, ruhiger nun, stiller werdend, nach Contenance suchend. 
 
Die Tempelglocken läuteten zum Abendgebet. Die Anwärter schenkten ihnen keine Beachtung und zeichneten nicht das Sonnensymbol, wie man es ihnen eingebläut hatte, vielleicht zum ersten Mal, seitdem sie den Dienst in der Legion angetreten hatten. Ein Seufzen, sein Blick wurde weich, nachsichtiger. 
 
„Du hast dir keinen Moment überlegt, warum ich einer sein könnte, nicht wahr? Wirst du’s dir anhören, oder willst du mich gleich in den Kerker werfen? Ich würde keinen Widerstand leisten, das verspreche ich. An deiner Stelle würde ich genauso handeln. Aber wenn dir Kameradschaft etwas bedeutet, dann lass mir ein paar Momente, um mich zu erklären.“ 
 
In einer bemüht friedvollen Geste hob er die Hände. Ihre Augen waren feindliche, schmale Schlitze. Unwirsch und, wie sie hoffte, bedrohlich, hob sie die Heugabel an, und letzte Sonnenstrahlen beleuchteten die Spitzen, ließen sie verheißungsvoll aufglänzen.
 
„Wenn du irgendetwas versuchst, dann gnade dir Mithras.“
 
Er rutschte näher an den Stamm, weiter weg von der Heugabel, die wieder Bodenkontakt fand, und schüttelte sacht den Kopf, eine minimale Bewegung nur, als hätte er Sorge, die kleinste Bewegung könnte sie provozieren, ihm das Werkzeug in den Bauch zu stoßen.
 
„Ich habe kein Interesse daran, dir wehzutun. Ich weiß, es sieht übel für mich aus. Aber es ist nicht, was du denkst. Es ist Teil eines größeren Plans. Sie haben mich vor ein paar Monden abgepasst, am Heimweg von einem Ausgang. Ich nahm es als Chance, aber nicht, wie du glaubst, um mich ihnen mit Haut und Haar zu verschreiben. Ich habe mich rekrutieren lassen, als Morrigús Soldat. Mich belehren und vollsäuseln lassen mit ihrem altgöttlichen Gift. Das ist wahr. Aber mit einem ganz anderen Ziel als dem, das du mir unterstellst: dem, sie zu unterwandern und ihre reichszerstörerischen Pläne zu zertrümmern, einen nach dem anderen. Mit dem Ziel, sie glauben zu lassen, ich sei einer von ihnen. Mit dem Ziel, ihnen weiszumachen, sie hätten mich umgedreht, einen glühenden Mondwächter geschaffen. Du weißt, wie es ist. Wir träumen doch alle davon, Großes zu leisten, in die Annalen einzugehen als leuchtendes Beispiel für alle anderen. Oder hast du dir nie ausgemalt, wie dein Name in goldenen Lettern an eine Wand gepinselt wird als Erinnerung an die Nachkommenden?“
 
Falsche Vertraulichkeit blitzte aus jedem Du. Marit Stein setzte ihr glattes Eis, unerbittlichen Frost und Laurenz Falks kalte Lehren entgegen.
 
„Männer wie Ihr wollen immer alles mit ihrem Namen anpinseln und die halbe Welt mit ihm markieren. Urkunden. Schwerter. Häuser. Erfindungen. Namen sind Schall und Rauch, Aurel Behringer. Es kümmert mich tatsächlich nicht, aus welchen Lettern der meine besteht. Mich kümmert das Wohl und der Glanz unserer einen, wahren Kirche.“ 
 
„Fein, nenn mich eitel oder von Hybris getrieben. Das nehme ich hin. Ich sage dir trotzdem die Wahrheit, bei allem, was licht und heilig ist. Mithras rufe ich an, dass er dir Einsicht schenke in dieser Stunde. Möge er mich in Sack und Asche gehen lassen, wenn nur eines meiner Worte Lüge in sich trägt.“
 
Er hielt die Hände zu seinen letzten Worten gefaltet, den Kopf geneigt, als säße er im Tempel – ein Bild eines zutiefst Gläubigen, der im Angesicht des Herrn demütig sein Haupt senkte. In Marit Stein keimte der Zweifel auf, eine unkrautige Pflanze, die in ihrem Beet aus Verachtung das oberflächliche Erdreich durchbrach. Sie merkte, wie gerne sie ihm Glauben geschenkt hätte und mahnte sich zur Wachsamkeit, die Heugabel fester umfassend.
 
„Warum weiß niemand von Euren Plänen? Wenn Ihr die Wahrheit sagt, ist es unfassbar dumm, dass Ihr Euch niemandem anvertraut habt. Wenn Ihr die Wahrheit sagt, muss Euch doch klar gewesen sein, wie gefährlich so ein Spiel ist? Wie schnell man zwischen den Fronten zerrieben wird?“
 
„Ich wollte glänzen, der Beste sein, der Einzige sein, der wusste, was gespielt wird. Ist das so unverständlich für dich? Ich malte mir Nacht für Nacht, Wachdienst für Wachdienst, aus, wie ich ihnen den Kopf des Anführers auf dem Silbertablett präsentieren würde und Monate an Arbeit feindokumentiert dazu. Akten voller Namen, Akten voller unbestreitbarer Wahrheiten.“
 
„Eure Tante ist unsere Ordensmeisterin. Und Ihr wollt mir erklären, selbst sie hat von nichts gewusst? Ich bitte Euch. Entweder lügt Ihr oder Ihr seid der ungeschickteste Legionsanwärter unter Mithras’ strahlender Sonne.“
 
„Natürlich nicht. Gerade sie nicht. Sie hätte mich sofort zurückgepfiffen. Was glaubst du, warum wir immer noch Anwärter sind, obwohl wir seit Monaten dienen? In Löwenstein befördern sie einen nach höchstens einem Mond, wenn man sich nicht anstellt wie Pentos Ruthe im Etiketteunterricht. Meine Tante hat viele Vorzüge, aber schnell oder wagemutig ist sie wahrlich nicht. Sie wartet lieber einmal zu oft ab statt eine überhastete Entscheidung zu treffen und lässt sich stets von ihrer Vorsicht leiten. Wie hätte sie wohl reagiert, wenn ich mich ihr offenbart hätte?“
 
„Wann behauptet Ihr, angesprochen worden zu sein?“
 
„Anfang Lenzing, es muss um den 5. gewesen sein. Du kannst es im Dienstbuch nachlesen. Ich war auf Ausgang in Guldenach, mit dem Ziel, neue Stiefel fertigen zu lassen. Du kannst sogar den Schuster in der Lederergasse fragen, er führt genau Buch über die Bestellungen. Im Dienstbuch steht, wann ich zurückgekehrt bin. Was willst du noch wissen? Frag mich ruhig.“
 
„Wir sind nicht per Du. Versucht nicht, Gemeinsamkeit zu schaffen, wo keine ist. Ihr sitzt hier auf der Anklagebank und ich bin weder Eure Freundin noch Eure Kameradin. Nichts von Euren Worten beweist Eure Unschuld. Ich bin überzeugt davon, dass der Ausgang und die Stiefelanpassung stattgefunden haben. Es wäre leichtsinnig von Euch, mich bei so einfach zu überprüfenden Fakten anzulügen. Was aber zwischen Euch und den Morrigújüngern gesagt wurde, ist nicht nachprüfbar – sehr praktisch für Eure Zwecke. Ihr könnt mir jetzt auch erzählen, dass Ihr in Wahrheit vorhattet, sie uns übermorgen zum Fraß vorzuwerfen und ihren Stützpunkt dann aufgeben wolltet – aber schenkt es Euch einfach, ich würde Euch ohnedies keine Silbe glauben. Oh, ich spreche Euch Eure Durchtriebenheit nicht ab. Wenn Ihr Euch je verdächtig verhalten hättet, wärt Ihr schon längst aufgeflogen. Ihr seid bis jetzt damit durchgekommen und wenn Euch die Erkennungsmünze nicht aus dem Beutel gefallen wäre – wer weiß, wie weit Eure niederen Pläne noch gediehen wären. Wenn wir Parzer nicht gefasst hätten – wer weiß, ob Ihr nicht an dem Attentat beteiligt sein solltet. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Schlüsselbund Eurer Tante zu stehlen und nachts in Falkners Refugium einzudringen.“
 
„So weit hätte ich es nie kommen lassen. Aye, sie sahen in mir den goldenen Schlüssel, der ihnen Tür und Tor öffnen würde. Aber ich wusste immer, ich würde jede Gefahr abfangen und Kunde an meine Oberen tragen, bevor es so weit gekommen wäre.“
 
„Was ist mit den erwähnten Akten? Wo sind sie?“
 
Er klopfte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. „Hier drin.“
 
„Das soll ich Euch nun also glauben? Ihr habt keinen einzigen stichhaltigen Beweis für Eure Worte, nichts, was Euch reinwäscht. Gar nichts. Für wie dumm haltet Ihr mich? Und Ihr wollt mir einreden, Ihr wärt unschuldig?“
 
„Ich schwöre vor Mithras, wenn du willst.“
 
„Nehmt seinen Namen nicht in den Mund! Diese Blasphemie ist ja nicht auszuhalten!“
 
„Du weißt um meine Aufrichtigkeit.“
 
„Nein!“
 
„Doch, das tust du. Du bist nächtelang neben mir gestanden und hast an der Pforte gewacht. Du und ich, wir sind uns gar nicht unähnlich, das war mir schon von Anfang an bewusst.“
 
„Schweigt. Wir sind uns so fremd wie die Nacht dem Tag. In Eurer Seele frisst eine ekelhafte Säure alles Helle auf.“
 
„Ich würde die Legion niemals hintergehen. Du weißt um meine Ehrlichkeit. Sag, du glaubst mir, Marit.“
 
„Nein.“
 
„Marit. Sag, du glaubst mir. Sag’s jetzt.“
 
Sag’s jetzt. Es brach aus ihr heraus, bevor sie den Worten Einhalt gebieten konnte. Ein Wortschwall, der haltlos über ihre Lippen drang, ungebremst wie das Schmelzwasser, das im Frühling von den Zwillingen stürzte.
 
„Du hast bis heute zur zehnten Abendstunde Zeit, um deine Seele zu retten. Geh beichten. Geh zu Falk und der Ordensmeisterin. Gesteh alles. Wag es nicht, etwas auszulassen.“
 
Die Frage, ob es ein Fehler war, ihn ziehen zu lassen, stellte sich ihr für keinen Moment. Es war ein unverzeihlicher Fehler. Sie sah ihm nach, bis er um die Kurve war. Benommen stand sie da, mit demselben Gefühl, das sich einstellte, wenn Pentos Ruthe ihr im Übungskampf das Holzschwert in die Rippen stieß: jähes, scheußliches Ringen nach Luft. Er aber schritt federnd aus, belebt von der frischen Chance, wie sie seinem Gang anzusehen glaubte. Eine Feldmaus wagte sich auf zwei Schritt an sie heran. Eine Feldmaus fand ein für eine Feldmaus rühmliches Ende, aufgespießt von einer Heugabel.
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
3. Vor der Lichtwache - von Marit Stein - 11.04.2017, 13:13
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 01.06.2017, 01:31
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 04.08.2017, 11:52
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 06.08.2017, 16:11
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RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 22.06.2018, 18:58



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