FSK-18 Auf dünnem Eis
#13
27. Ernting, später

Novize Hans Pollach wischte sich heillos schwitzend mit einem schon triefend nassen Taschentuch über die pausbäckigen Wangen. „Werde Priester“, hatten sie gesagt, „du vergeudest deinen Grips hier nur“. „Mithras lächelt dir“, hatten sie gesagt. Und ein besonders Vifer, der hatte gesagt: „Die Kirche holt sich immer die besten Köche, schwöre!“. Nichts davon war eine Lüge, aber die letzte dieser Wahrheiten verlangte ihm in diesem Sommer, in dem die Temperaturen unablässig anstiegen, alles ab, was er hatte. Unruhig schob er einen Finger unter seinen Gürtel. Bildete er sich das ein oder saß der schon lockerer, weil er so viel Wasser verlor?

Wulstig schob sich das Kinn des Novizen stets vor dem Rest seines Körpers durch die Welt, als wollte es jede Widrigkeit, die sich auf seinem Weg auftürmte, schon Kraft seiner Entschlossenheit zersprengen. Ein enormer Bauch türmte sich unter dem Novizenkinn auf. Novize Pollach hätte ohne die Kirche niemals dieses imposante Gewicht erreicht. Als er ihr beigetreten war, drei Jahre musste es her sein, war er ein rankes und schlankes Bäuerlein gewesen, ein viele Spannen langer Hansel, der siebte Sohn eines freien Bauern, der nur erben hätte können, wenn Mithras besonders ekelhafter Laune gewesen und seine Geschwister samt und sonders hinweggerafft hätte. So lange seine Erinnerung zurückreichte, war Novize Pollach brav neben dem Ochsenpflug gegangen, hatte stoisch Heu vom Wagen in den Heuschober verfrachtet, die Nasenlöcher gänzlich vom Staub verklebt, und die Scholle seiner Familie bestellt, wie der Herr es vorgesehen hatte – bis ihn eines Tages schlagartig die Erkenntnis traf, dass der Herr es so vielleicht gar nicht vorgesehen hatte. Seitdem hatte er sich fröhlich einen riesigen Bauch angefressen, auch wenn Laurenz Falk ihn dafür abwechselnd mit beißendem Spott und frommer Verachtung überhäufte und Hans Pollach nicht nur eine Buße für seine Maßlosigkeit und Völlerei hatte auf sich nehmen müssen. Die Schelte glitt an ihm ab wie Wasser an einer Wachsschicht. Niemand hatte ihn bisher überzeugen können, dass lukullische Enthaltsamkeit besser war als das eklektische Gefühl, sich fünf Törtchen hintereinander in den Mund zu schaufeln, bis die gesamte Mundhöhle von Biskuit und Schlagobers gefüllt war. Niemand hatte ihm weismachen können, Zurückhaltung schlüge das wohlige Essenskoma, das sich nach dem Genuss eines halben Schweinsbratens einstellte. Und schon gar nicht hatte ihm jemand erklären können, was so großartig am Fasten war, wenn Mithras doch Erdäpfelpüree erfunden hatte, damit man sein Gesicht in das zarte Gelb schmiegen konnte, wenn niemand hersah.

Sie warfen ihn trotzdem nicht hinaus, denn er hatte etwas, das nur wenige in der Kirche vorweisen konnten: Bauernschläue und jahrelange Erfahrung in der Landwirtschaft. Wer so eifrig wie die Silendirer Kirche Mondwächter ihres Besitzes entledigte, konnte nicht einfach deren Felder mirnixdirnix brachliegen und verkommen lassen. Wer so eine Schiene fuhr, brauchte eines dringend: starke – oder einfach nur willige – Arme, die Heugabeln in die Hände nahmen und die Drecksarbeit machten. Oft genug traf es Tagelöhner, die für ein paar Heller Lohn ihrer alten Mama die Erbsensuppe vom Herd gestohlen hätten. Manchmal trat jedoch eine Tagelöhnerknappheit auf, die mit verstärktem Anwärtereinsatz ausgeglichen werden konnte. So wie heute.

Novize Pollach sehnte sich nach Abkühlung, und nicht einmal der voluminöse Strohhut, der auf seinem Glatzenhaupt thronte und dessen baumwollenes Inneres bereits schweißdurchtränkt war, brachte ihm diese. Seine Laune wurde nicht besser durch die Betrachtung einer gänzlich nutzlosen Anwärterschar, von denen einer jämmerlicher aussah als der nächste.

Pentos Ruthe hielt die Heugabel martialisch-raubeinig in seiner Pranke als wäre sie ein Dreizack. Philomena Ruthe hatte ihre in den weichen Boden gerammt, die eisernen Spitzen voran, als fürchtete sie, sich von der fortgesetzten Berührung mit dem Holzstiel die Keuche zu holen und verharrte mit verschränkten Armen schmollend daneben. Talpa Ulat stützte sich vornübergeneigt und bucklig auf die aufgestellte Gabel als wäre das Werkzeug ein Krückstock und Talpa ein altes Weib mit Gicht. Anwärterin Marit Stein stand steif, übertrieben aufrecht und wachsam in der Gegend herum, als hielte sie die Heugabel für eine gesegnete Standarte, die sich nur durch ein Versehen während ihrer Wache in ihre Hand verirrt hatte. Einzig Aurel Behringer war in der Lage, zumindest so zu tun als habe er den Anflug einer Ahnung, wozu seine Forke überhaupt gut war. Pollach hatte den Anwärtern Leinenhemden und -hosen in die Hand gedrückt, in denen sie sich deutlich unwohler zu fühlen schienen als in ihren Rüstungen. Bestückt mit leichten Lederstiefeln, neuen Strohhüten und feingebügelten Kopftüchern wirkten sie eher wie eine Bande Amateurschauspieler, die den Auftrag bekommen hatten, eine Landszene mit Bauern darzustellen, aber dabei partout zu gut aussehen wollte, als die glorreiche Zukunft der Legion.

„Legionäre! Das seid ihr, schaut nicht so überrascht! Gradegestanden, Anwärterin Ulat! Und nicht so glupschäugig in die Gegend geglotzt, es tut Euch keiner was! Anwärterin Ruthe, ihr ruiniert mir die Heugabel. Aufnehmen! Das ist ein Werkzeug, Anwärterin Stein, keine fünfhundert Jahre alte Reliquie – es beißt Euch nicht, anpacken! Nehmt Euch ein Beispiel an Behringer! Was habt Ihr da in der Hand, Anwärter Ruthe?“

„’Ne Heugabel.“ Maulender als Pentos Ruthe konnte man die zwei Worte kaum hervorspucken.

„Habt Ihr vor, mich damit aufzuspießen?“

„Zu viel F... nein, Novize Pollach!“

„Zu viel Fett, oh, empfangt meine Huldigungen, großer Meister, ihr seid der brillanteste, kreativste Witzbold, den Guldenach je hervorgebracht hat. Habe Euren Pokal schon vorbereitet. Dann runter mit dem Ding, stellt Euch nicht dümmer an, als Ihr seid. Die spitzen Enden nach oben.“

Pentos Ruthe sah drein, als habe er einen Krug Essig getrunken und tat, was man ihm auftrug. Das funktionierte ja immerhin. In manchen Belangen war eben doch Verlass auf Legionärsanwärter. Sie widersetzten sich nur selten einer ausreichend geblafft vorgetragenen Anweisung, wenn sie ein paar Monde gedient hatten. Novize Pollach warf sich entkräftet das angesogene Taschentuch über die Schulter und besah sich die Reihe der fünf Aushilfstagelöhner, breit grinsend die Arme ausbreitend, als wollte er sie alle wie eine verlorene Brut missratener Sprösslinge an seine ausladende Brust ziehen.

„Ihr haltet es alle für unter eurer Würde, Heu einzubringen wie ein dreckiger Tagelöhner, der drei Tage vor seiner minderen Arbeit am Feld vielleicht noch zu seinen grässlichen Erdgöttern gebetet hat und beteuern würde, jedem Gott auf Mithras’ Erdkreis zu dienen, wenn man mit einer Handvoll Heller vor seiner Nase klimpert. Seht ihr diese Finger?“

Fünf Augenpaare richteten sich auf die dicken Finger des Novizen.

„Diese Finger fassen nie wieder eine Heugabel an. Warum nicht?“

Talpa piepste: „Kriegt Ihr Pusteln vom Heu? Mein Vetter kriegt Pusteln v..“

„Falsch, nächster! Behringer!“

„Ihr wisst schon, wie’s geht und es gibt ja uns.“

„Das ist mein Goldjunge! Ich habe so verdammt viel Heu geschaufelt, dass es für drei Leben reicht. Und ich werd euch jetzt anhand eines Beispiels – Behringer, an meine Seite! – zeigen, wie man eine Heugabel so anfasst, dass man nur fünf Blasen hat anstelle von zwanzig. Ihr könnt auch in die Luft schauen – ist eure Entscheidung!“

Aurel Behringer baute sich neben dem Novizen auf und bemühte sich zu bemüht um eine möglichst ausdruckslose Miene, die Heugabel absenken. Der schwitzende Landwirtschaftslehrmeister interessierte sich jedoch ohnedies nicht für den Gemütszustand des Anwärters, sondern nur für seine Hände. Er packte die Gelenke Behringers mit jovialem Breitmaulfroschlächeln und platzierte sie auf dem Werkzeug.

„Die Linke unten, die Rechte oben. Gewöhnt euch dran. Die nächsten zwei Wochen steht ihr auf den Wiesen unserer heiligen Mutter Kirche euren Mann, und zwar von Sonnenauf- bis untergang. Heute wird gegabelt, morgen, sobald die Sonne aufgeht, gerecht! Kommt von Rechen, nicht Gerechtigkeit! Stein, wie erkennt man, ob das Heu trocken genug ist? Jetzt habt ihr mich, der’s euch sagt, aber wenn mich die Keuche hinwegrafft oder ich übermorgen auf Pilgerreise geh, müsst ihr selber schauen, wo ihr bleibt!“ Novize Pollach konnte der riesigen Nortgarderin ansehen, wie sehr sie es verabscheute, keine konkrete Antwort zu haben.

„Ich nehme an, man könnte Halme brechen und schauen, ob sie innen nass sind,“ wagte die Anwärterin sich auf das ihr eindeutig unvertraute Terrain.

„Teilweise richtig! Macht es wie bei einem Waschlappen!“ Pollach bückte sich ächzend, fiel fast vornüber, griff beherzt in die feinsäuberlich zusammengerechte Reihe Heu, die längsseitig parallel zum Rand des Feldes entlanglief und drehte das Büschel, das aus seinen ausgiebigen Pranken ragte während er sich wieder aufrichtete mit der zweiten Hand, als wollte er es auswringen.

„So. Wenn’s grau ist und aromatisch riecht wie der Unterrock eurer entzückendsten Magd nach dem ersten Waschtag im Ernting, ist’s fertig. Ah, bei Mydrion, diese Johanna, hätte sie einen doch rechtzeitig erhört, als man noch durfte! Anwärterin Ruthe, wie stellt man sich am besten auf, damit’s für alle gleich anstrengend ist?“

„Ahm. Ahm. Drei am Wagen, zwei unten?“

„Damit man sich auf der Ladefläche gegenseitig mit der Heugabel ins Auge stechen kann? Heiei. Vergesst es, Ihr werdet nachrechen, her mit der Heugabel, nehmt einen der Rechen von dort drüben. Anwärter Ruthe, Ihr macht den Belader. Dazu stellt Ihr Euch auf den Wagen – ah, da kommt er schon, sehr schön. Drei von euch spießen das Heu zu Schübeln auf – jawoll, Behringer, so gehört sich das – und schupfen Ruthe die Heuschübel zu. Schwester Ruthe recht hinten das übrige Heu nach. Bruder Ruthe schichtet und schiebt es auf dem Wagen dicht zusammen. Verstanden, Stein?“

„Verstanden, Novize Pollach.“

„Hervorragend. Das ist euer erster Wagen! Die Tagelöhner schaffen vier pro Tag. Ahhh. Alle einatmen, das ist der blumige Duft der schweißtreibendsten Schinderei!“ Er scheuchte sie aufs Feld wie eine Gouvernante ihre Schützlinge in den Benimmunterricht, platzierte sie geschickt hintereinander und wies sie an, den Abstand zueinander stetig beizubehalten. Eben zeigte er Pentos Ruthe, wie dieser auf der Ladefläche seine Arme schonen konnte, als dessen Schwester am Ende der Reihe pikiert ihren Mitanwärtern zuzischte: „Dafür bin ich nicht zur Legion gegangen, dafür nicht!“ Pollach schwenkte um, strahlte beseelt, als ginge eine Sonne zwischen seinen Gesichts- und Halsfettpölstern auf und waberte auf Philomena Ruthe zu.

„Ruthe, wiederholen, zack zack: ‚Früh auf und spät nieder, friss schnell und lauf wieder!’“ Philomenas Geschwindigkeit war dezent langsamer als seine, als sie stotternd wiederzugeben versuchte, was Pollach heruntergerasselt hatte. Der Novize lächelte hingerissen, die fleischigen Backen von Grübchen eingedellt. „Schön ist sie wie der junge Morgen, aber so enttäuschend langsam wie Damon Vorbis, wenn das Wetter umschlägt! Wenn Eure Hände schneller sind als Euer Mundwerk, werden wir noch Freunde, Anwärterin! Legion, zuuuu den Gabeln!“

Die Zeit weigerte sich, zu vergehen. Die Sonne, Sinnbild ihres festen Glaubens, versengte den Hellhäutigen, darunter Marit Stein, den Nacken. Novize Pollach lachte nachsichtig und klatschte ihnen eine stinkende Paste in die Hände, die er mit seinem wurstigen Zeigefinger aus einem Tiegel aufnahm. Anwärterin Stein konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, die Fliegen wurden davon noch zudringlicher. Immerhin kühlte das gräuliche Gemisch den Sonnenbrand, auch wenn es nach einer Stunde krümelig den Rücken hinunterbröselte, sobald sie den Kopf bewegte.

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Sieben Stunden später ließ Marit Stein sich unter der nächstbesten Eiche neben einem nunmehr mit zahllosen Heuballen versehenen Feld einfach fallen. Novize Pollach hatte den Ruf, der verträglichste unter den Priesternovizen zu sein. Das mochte stimmen, aber er kannte kein Erbarmen, wenn es darum ging, eine Aufgabe zu erledigen, die sich in unerledigtem Zustand ungünstig für ihn auswirken konnte. Vor ein paar Momenten hatte er, der er die letzten Stunden Limonade trinkend unter dieser Eiche zugebracht hatte, das Dienstende für diesen Tag verkündet. Seine genauen Worte waren gewesen:

„Rückzug, Essen fassen, Legion! Wer mir sein Erdbeerkuchenstück überlässt, fängt morgen einen Viertelstundenlauf später an! Ansonsten: Tagwache zur fünften Stunde!“ 

Pollach belieferte einen der Köche regelmäßig mit Räucherspeck aus seinem Elternhaus, um den aktuellen Speiseplan zu erfahren, hieß es. Die Ruthes und Talpa hätten ihre Heugabeln fallengelassen, wenn Behringer sie nicht gescholten hätte. Er band den Ballen zusammen, während die drei anderen Anwärter sich zurückschleppten und Novize Pollach an ihrer Seite das Feld entlangwatschelte. 

Marit Stein spürte ihre Arme nicht mehr. Halbblind starrte sie in die untergehende Sonne und zog sich den Strohhut vom Schopf. Nach dem zehnten sinnlosen Versuch, den Halmen im Haar per Ausschütteln desselben Herr zu werden, hatte sie es aufgegeben und zähneknirschend versucht, den allgegenwärtigen Staub, die krebsrote Haut im Nacken, die Halme und die fünfhundert Insekten, die ständig die Beine hochkrochen, als schlicht gegeben anzusehen, sich kalte Orte in Erinnerung zu rufen – Nortgard im Sommer war so angenehm, das sommerkühle Seehaus schob sich aus dem Dunkel. Ein Fehler. Erinnerungsblitze schossen ihr durch den Kopf und verfingen sich mit Widerhaken in ihren Gedanken, penetrant wie die Halme im Haar, nicht loszuwerden. Der Steg. Er und sie. Jugendlicher Wagemut, abgerissene Worte.

„Hier?!“ – „Genau hier.“ – „Du bist ja verrückt. Im Sonnenlicht?!“ – „Mithras sieht uns sowieso! Sag, du liebst es.“ – „Du bist ja verrückt!“ – „Sag’s jetzt!“ – „Ich lieb es.“

Einfach ein bisschen die Augen zumachen, und nicht an den Staub in der Lunge denken, nicht an die Münze in der Hosentasche, für ein paar selige Momente diesem grässlichen, flirrend heißen Ort entfliehen, der jeder gestandenen Nortgarderin die Grausbirnen aufsteigen ließ.

„Anwärterin? Geschlafen wird später. Wir sollten zurückgehen.“

Niemand gönnte ihr Frieden.

„Noch nicht.“
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
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