FSK-18 Auf dünnem Eis
#11
26. Ernting (Sommer)

Falk packte ihr Handgelenk zwischen Armschiene und Handschuh. Sie stand wie festgenagelt, während drinnen eine Frau laut anfing zu klagen und grelle Kinderstimmen sich haltlos greinend dazugesellten. Die Stimme des Erzpriesters an ihrem Ohr:

„Vorwärts! Jetzt beweist Ihr Euch, Anwärterin. Hat dieses Gesindel etwa ein Dach über dem Kopf verdient?“

Die Frage, was das Gesindel getan hatte, lag ihr auf der Zunge, aber sie kannte Laurenz Falk gut genug, um sie nicht zu stellen. Er sparte sich das Warten auf die Antwort, nachdem die Frage ohnedies rhetorischer Natur gewesen war. Der Schraubstockgriff um ihren Arm löste sich und so senkte Marit den Kopf, um die Keusche zu betreten. Aus dem Augenwinkel sah sie Falk folgen, die Türe schließen und sich im Türrahmen aufbauen, den er damit blockierte. Pentos’ und Talpas Fackeln leuchteten das Zimmer mühelos aus. Sie senkten die Fackeln rasch, sonst hätte das strohgedeckte Dach Feuer gefangen. Wieder eine niedrige Stube, doch weitaus schmuckloser als die letzte. Hier residierten keine Kaufleute, sondern Keuschler, die von Zuckerwerk und Portwein nur träumen konnten. Der gestampfte Erdboden in der Hütte war mit Stroh bedeckt. Fliegen belagerten einen Topf, der offen am Herd stand und dunkel von ihren Körpern war. Träge erhob sich ein erstes Bataillon der Insekten, als das Licht sie erreichte. Ein erschlagender Geruch nach Kraut und ungewaschenen Körpern, nach beißendem Zwiebeleintopf und unverhüllter Armut beherrschte den Raum. An einem Kamin drängten sich jammernd zwei Jungen und eine Alte mit verhärmtem Gesicht zusammen, alle drei in unterschiedlichen Tonlagen beständig heulend, sie hätten nichts getan. Die Jungen, die etwa vier und sechs Jahre sein mochten, klammerten sich an dem fleckigen Rock der Alten fest. Diese blickte hilfesuchend zu einer vierten Person. Pentos und Talpa standen einem breitgebauten Kerl von etwa 20 Sommern gegenüber, der mit nichts als einer Leinentunika, einer dünnen Hose und seinen Fäusten bewaffnet war. Die geballten Fäuste reckte er ihnen mit erhobenem Kinn entgegen. Mut und Dummheit lagen manchmal nah beieinander.

„Was wollt Ihr hier? Verdammtes Aschegottgesocks! Lasst uns in Frieden!“

Pentos’ Gesicht war ein offenes Buch. Die Fackel fiel ihm beinah aus der Hand, als er sie Marit in die ihre drückte. Er konnte sich kaum still halten von der Aussicht, dem Diktat seines Naturells ungestraft folgen zu dürfen. Und wirklich – Falk senkte gnädig seinen Kopf und ließ den Bluthund von der Leine. Krachend schoss die Faust des Anwärters gegen das Holz, nur knapp am Kopf des Keuschlers vorbei. Falk trat zu Pentos vor, die Ruhe selbst. Seine Stimme war so tragend wie bei der Morgenandacht, ganz als spräche er zu einem unsichtbaren Publikum. Weit breiteten sich die Arme des Erzpriesters aus, wie Flügel.

„Seht den Verdammten, der in Schmutz und Elend lebt, nah an der Erde, wie die dreckigen Götter, denen er huldigt. Seht Lan Parzer, der sich von blindem Fanatismus leiten ließ! Er wurde verraten und plante einen feigen Anschlag gegen unseren geliebten Hermeno Falkner, Pfeiler des wahren Glaubens!“

Parzer wollte sich auf ihn stürzen, wurde aber von einem Bolzen in seinem nackten Fuß daran gehindert. Jeder vergaß auf Talpa. Immer. Er jaulte auf und kippte bewusstlos zur Seite, als Pentos ihm einen Kinnhaken mit gerüsteter Hand verpasste. Marit hörte es knirschen. Es lag nicht in Pentos’ Natur, Zurückhaltung walten zu lassen, wenn er endlich seine Zähne in ein Opfer schlagen durfte. Die Alte wollte Talpa davon abhalten, ihr weniges Hab und Gut aus der einzigen Kommode im Raum zu reißen, wurde aber von einer langsam erhobenen Fackel abgelenkt. Talpa führte ihr Werk ungehindert durch. Die Kinder hockten starr am Kamin und waren verstummt, während die kleine Hohenmarschnerin in der Kommode herumstöberte.

Führte Mithras ihre Hand oder war der Wunsch, bedingungslose Gehorsamkeit walten zu lassen, endlich gefestigt in ihrem Inneren geworden? War es Falks Erwartung, die den Impuls gab oder war es ein tiefer Glaube an die Herrlichkeit des Herrn, die ewig währen und einen jeden ereilen sollte? Es war nicht zu sagen, was ihr Kraft gab, aber Marit Stein fühlte, wie die Welt stillstand und unendlicher Friede in ihr einkehrte, als sie die Fackel anhob. Sanft sprach die Anwärterin über das aufkeimende Geschrei hinweg:

„Mögen die Flammen alles Lästerliche an diesem Ort ausbrennen.“

Das Stroh über ihrem Kopf brauchte keinen Herzschlag lang, um das reinigende Feuer anzunehmen, ganz als sei es ihm willkommen. Zu lange schon hatten Trockenheit und Hitze das Land beherrscht. Ja, Marit Stein vermeinte gar, ein frohlockendes Seufzen wahrzunehmen, als das Dach Feuer fing. Sie hatte keine Eile und hielt den Kopf in den Nacken gelegt, beseelt vom hell auflodernden Rot. Pentos steckte den Kopf in die Stube und zog Marit nach draußen.

Die Kinder und die Alte klammerten sich aneinander fest und weinten vor sich hin, nunmehr leiser. Der kampflustige Mondwächter lag reglos neben ihnen, von der Alten hinausgeschleppt. Hätte Marit etwas anderes als diesen inneren Frieden fühlen sollen? Alles in ihr war so ruhig. Kein Zagen, kein Zaudern, kein Abwägen. Keine Verzweiflung. Keine wild lodernden Sehnsüchte, die unstillbar bleiben mussten. Keine Bilder eines nackten Männerkörpers in der Wintersonne, kurz vor dem Eintauchen in den See. Kein trockener Mund, nur weil Yngvars Blick zu lange auf ihr ruhte. Kein Aussetzen des Herzschlags, weil sie ihn mitten in Silendir zu sehen glaubte. Stille. Frieden. Tun, was zu tun war. Befehle ausführen, die es auszuführen galt. Der Schild des Herrn sein, das Schwert, das Falk ersehnte.

Die Keusche brannte lichterloh, und es war recht so. Niemand kam mit Wasser, niemand kam mit Eimern. Ahnten die Guldenacher, was hier passiert war?

„Nehmt ihn mit, Anwärter.“

Lan Parzers Familie leistete keinen Widerstand mehr, als der Reglose von Pentos und Marit hochgehoben wurde. Die Mithrasdiener packten ihn an den Beinen und Handgelenken, während die Alte mit den Kindern in der Nacht verschwand. Aus sicherer Entfernung rief sie ihnen etwas nach. Marit konnte die Worte nicht ausmachen. Falk widmete weder ihr noch den Jungen weitere Aufmerksamkeit, sondern betrat den Weg. Die Flammen waren bald aus dem Blickfeld. Der Angeschossene hätte schwer sein müssen, aber Marit fühlte, sie hätte einen Amboss schleppen können. Nichts war mehr schwer in dieser Nacht.

An den Toren des Tempels angekommen, traten die Wachen hinzu, um den Gefangenen zu inspizieren. Falk wies sie barsch an, an ihren Posten zurückzukehren.

„Bringt ihn ins Verlies. Untersucht ihn auf Waffen. Anwärterin Stein, Ihr werdet der Befragung morgen früh beiwohnen. Nehmt die Schlüssel, Anwärter Ruthe. Ihr schreibt das Protokoll.“

Pentos wirkte enttäuscht. Marit wusste, er hätte liebend gerne mit ihr getauscht. Talpa gähnte und wurde von Falk mit ruppigem Befehl in die Waffenkammer geschickt. Sie stiegen langsam die Treppen hinunter. Die Wendeltreppe hinunter in den Kerker war eng und steil. Ab und an tockte der Kopf des Mondwächters gegen die Wände. Die Anwärter kümmerten sich nicht darum. Pentos schloss die Tür zu einer der mittig gelegenen Zellen auf. Zusammen legten sie den Mann hinein. Die Mühe, den Bolzen aus seinem Fuß zu entfernen, machte sich keiner.

„Ich den Unterkörper, du den Oberkörper. Mach schnell, ich verdurste.“

Marit nickte, und während Pentos methodisch die Beine des Bewusstlosen abtastete, zog sie ihre Handschuhe ab, hängte sie am Gürtel ein und hob das Hemd des Fremden an. Sie erwarte nicht, eine Waffe vorzufinden. Wenn er eine trug, warum hatte er sie dann vorhin nicht gezogen? Unter dem Leinenhemd blitzte etwas schwach im fahlen Licht der Kellerfackeln. Ein bronzenes Medaillon an einem Lederband. Pentos hatte sich schon wieder aufgerichtet und murrte ungeduldig vor sich hin, Richtung Treppe wandernd. Marits Körper verdeckte ihm die Sicht auf den Gefangenen. Sie ballte die Faust um das blitzende Ding und hob es dem Mondwächter von seinem drecksstarrenden Hals. Er riss die Augen auf, lallte etwas Unverständliches und grapschte nach ihrer Hand, doch da hatte sie sich schon erhoben und die Zellentür ins Schloss geworfen.

„Hehe. Gute Nachtruhe. ‘S is’ mit Sicherheit sauberer hier als in deiner stinkenden Hütte, Drecksschwein.“

Marit hörte den Gefangenen noch stöhnen, als sie hinter Pentos die Treppe hinaufstieg. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, das Medaillon in ihrer Hand fühlte sich heiß an, als wollte es ihr die Handfläche versengen. Sie wagte nicht, es genauer anzuschauen. Nicht hier. Pentos schwatzte unablässig und öffnete endlich die Tür zur Küche.

„Na komm, Steinchen, ein Belohnungstrunk.“

„Anwärterin Stein. Nein, danke. Ich muss meine Rüstung säubern.“

„Wie du willst, Steinchen. Ich wart’ auf den Tag, an dem du mal aufweichst!“

„Möge der Herr deinen Schlaf segnen.“

Die Tür fiel hinter ihm zu und sie trat unter die nächstbeste Fackel. Langsam öffnete sie die Faust. Die eingestanzten Buchstaben hatten sich in ihre Haut gedrückt, so fest hatte sie das Medaillon umklammert gehalten. M und A. Ein Medaillon in Form einer Münze. Wie die Münze, die Aurel Behringer auf den Tempeltreppen verloren hatte. Die Münze, die angeblich seinem Freund, dem Mondwächter, gehörte.

Ihr Frieden zerbröckelte.
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
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