FSK-18 Auf dünnem Eis
#10
26. Ernting 1402 - (Sommer)

Die stickige Stube in dem kleinen Fachwerkshaus am Rand von Guldenach beherbergte zu viele Menschen. Sie atmeten einander die Luft weg. Mit jedem Atemzug wurde ein kühlerer Ort verlockender. Der Abend hatte keinerlei Erleichterung gebracht. Gegen Ende des Ernting hatte sich der Sommer entschlossen, noch einmal mit ganzer Macht zuzuschlagen und ließ seine Fäuste nicht sinken, bloß weil die Sonne unterging. Neben der Eingangstüre verharrten drei Anwärter, stumm, aber von unterschiedlichen Qualen umgetrieben: Pentos Ruthe schwitzte, hing windschief auf seiner Hellebarde und kämpfte mit aufsteigender Übelkeit, wenn man nach der wächsernen Blässe in seinem Gesicht gehen konnte. Talpa Ulat blickte ständig nur überfordert zu Boden und zuckte nervös, sobald jemand in ihre Richtung schaute. Marit Stein hingegen wachte reglos als scheinbar unbeteiligter Golem, musste allerdings den Kopf schmerzhaft gebeugt halten. Diese niedrige Stube war für kleinere Menschen gedacht. Talpa etwa hatte noch gut Platz über ihrem Helm. Falk darum zu bitten, draußen Wache stehen zu dürfen, wäre der Nortgarderin dennoch nicht eingefallen. Sie wusste es besser – mittlerweile. Neben einer Standpauke hätte sie sich vermutlich einen Abend in einer ähnlich niedrigen Kammer eingehandelt, um zu lernen, nicht den Körper und seine verachtenswerten Schwächen über den heiligen Dienst an Mithras zu stellen.

Gegenüber saß der Meister ihrer Geschicke an diesem Abend und stieß eben sein Kristallglas sacht klirrend gegen zwei andere, um sich danach kontrolliert in seinen gepolsterten Sessel zurücksinken zu lassen. Er trug seine Lamellenrüstung unter dem Wappenrock mit stoischer Gelassenheit, so als wöge sie nicht mehr als ein Pfund Federn. Über sein strenges Gesicht wagte keine einzige Schweißperle zu tropfen. In den zwei anderen Sesseln thronten der Herr und die Herrin dieses Hauses, ihres Zeichens umtriebige Händler und neuerdings vehemente Unterstützer der Kirche. Im Gegensatz zu Laurenz Falk war ihre Verfassung bedeutend schlechter, was dem schweren Portwein, dem die illustre Gesellschaft der drei seit einer Weile zusprach, genauso geschuldet sein konnte wie der Luft. Beide hatten sie hochrote Köpfe und tupften immer wieder unauffällig mit Taschentüchern über ihre glatten Gesichter. Einst hatte man in diesem Haus Mithras nur auf dem Papier gedient, doch war diese oberflächliche Haltung berichtigt worden. Eine neue Stärke war hier eingezogen, was allein Falk zu verdanken war. Sein Aufstieg zum Erzpriester hatte Veränderungen zur Folge gehabt, deren erste Früchte nun geerntet wurden. Eine seiner erklärten Absichten war, die einflussreichen unter den Silendirer Geschäftsleuten im Glauben an Mithras zu festigen und das Mondwächtertum, das hauptsächlich noch unter den Bauern Silendirs wucherte, auszureißen. Die Logik dahinter war unbestechlich. Nicht nur war jede Seele, die im Glauben unterstützt wurde, ein Erfolg, Händler kamen auch regelmäßig im Lehen herum und würden den wahren Glauben weiterverbreiten.
 
Seit zwei Stundenläufen verharrten sie nun schon hier. Das Gespräch hatte sich hauptsächlich um die künftige Unterstützung der Talers für die Kirche gedreht und Falks Auftrag, den gesamten Tempel mit Kerzenständern aus dem Talerschen Repertoire zu versehen.

„Wir möchten Euch noch einmal aufs Allerherzlichste zu Eurer Erhebung gratulieren, Eure Seligkeit. Aufs Allerherzlichste. Es gibt keinen, der sie mehr verdient hätte als Ihr.“

Madita und Lesos Taler überschlugen sich fast in ihrer überbordenden Gastfreundschaft. Madita Taler lehnte sich eben vor, um Seiner Seligkeit nachzuschenken, musste aber mit puppenhaft schmollend geschürzten Lippen zur Kenntnis nehmen, dass die zackig vorgeschobene Hand des Erzpriesters ihr Tun unterbrach. Süßlich lächelnd schob sie den Teller mit fein ziselierten Gebilden aus Zucker, den er nicht angerührt hatte, näher zu ihm. Diese Leute waren Marit zutiefst zuwider. In Nortgard bat man einen jeden an seinen Tisch, wenn er rechten Glaubens war. Man kratzte zusammen, was man hatte, um nicht als geizig zu gelten, röstete das hart gewordene Brot und richtete einen Eintopf aus den letzten Resten, wenn es sein musste – und wenn man dafür zwei Tage darben musste. Aber man hofierte niemanden auf diese grässliche, aufdringliche Art der Silendirer. Marit hatte stille Zweifel am neu aufgeflammten Glauben der Talers. Opportunisten wie diese richteten sich einzig und allein nach den einflussreichsten Stimmen im Lehen. Falk erhob sich ruhig und neigte den Kopf.

„Habt Dank für Eure Freigiebigkeit, Schöffe. Frau Taler – Ihr kommt zur Morgenandacht?“ Die Frisur der Angesprochenen, ein fragiles Gebilde aus Brenneisenlöckchen, wippte gefährlich, als sie heftig nickte. Seitdem Falk die Morgenandacht hielt, schienen die Silendirer das frühe Aufstehen weitaus besser zu vertragen als zuvor.

„Legion!“, bellte der Erzpriester ihnen entgegen. Die Schilde, die sie an die Wand gelehnt hatten, wurden aufgenommen.. Hastig öffnete Pentos ihm die Türe, um sogleich selbst dankbar in die Sommernacht zu tauchen. Marit und Talpa folgten nach einem Abschiedsgruß, und während die schmächtige Hohenmarschnerin den beiden Männern schon mit kleinen Schritten hinterherraste, setzte Marit sich ans Ende der Gruppe, schloss die Türe und fing noch den enttäuschten Blick der Hausherrin auf. Wie ein Kind, dem man das liebste Spielzeug weggesperrt hatte, starrte Madita Taler ihnen hinterher.

Die Anwärterin leerte sich die Reste des schal gewordenen Wassers aus ihrem Trinkschlauch in die Kehle und atmete lange ein. Zwar stand auch draußen die Luft, doch immerhin war sie nicht portweinschwanger und schal. Die Straße, auf der sich weitere Fachwerkshäuser aneinander drängten, war denkbar finster, es war grade erst Neumond gewesen. Hinter wenigen Butzenglasfenstern der Straße zuckten noch Kerzenflammen. Talpa und Pentos entzündeten Fackeln und flankierten den Erzpriester, der seinen prunkvollen Wappenrock richtete und die Ärmel zurechtzog. Marit platzierte sich hinter ihnen. Der prüfende Griff zum Schwert war selbstverständlich geworden. Der Schlafsaal und das Ablegen der Rüstung schienen zum Greifen nah, doch als Talpas Blick zu dem Weg glitt, der sie zum Tempel zurückführen würde, schüttelte Falk nur knapp den Kopf.
 
„Noch nicht. Eine andere Aufgabe erwartet uns.“

Vor ein paar Wochen hätten sie ihren Unmut darüber kaum verbergen können. Nun hätte man höchstens in den schmal aufeinandergepressten Lippen der Anwärter aufkeimende Unzufriedenheit erkennen können. Es blieb keine Zeit, für diese Regung gescholten zu werden. Falk hatte anderes im Sinne und die Anwärter folgten ihm hastig Richtung Stadttor. Der Schutz der Priesterschaft war eine der zentralen Aufgaben der Legion und nun, da sie schon einige Monde lang gedient hatten, traute die Ordensmeisterin ihnen auch zu, diese Aufgabe erfüllen zu können. Von einer zweiten Aufgabe hatte Gesine Behringer allerdings nichts verlauten lassen. Es war vorgesehen, nach dem Gespräch bei den Talers in den Tempel zurückzukehren. Seltsam. Marit stapfte hinterdrein, bemüht, Schritt zu halten.

Falk gab das Tempo vor, schritt aufrecht zu den Stadttoren hinaus und schien nicht im Mindesten ermüdet, während die Anwärter sich mühselig hinterherschleppten. In der Anwärterschaft war vor kurzem ein Gerücht aufgetaucht, das besage, Falk wäre ein Nachkomme von Larrik Haffner, des ersten Abtes der Sonnenlegion. Dieser war für seine Strenge bekannt und wurde als Heiliger verehrt. Das unmenschliche Durchhaltevermögen des Erzpriesters konnte nicht von ungefähr kommen, wollten ein paar Wichtigtuer wissen: Mithras selbst musste ein ganz besonderes Interesse an ihm haben. Marit glaubte nicht recht daran, nicht zuletzt, weil sie noch nie gehört hatte, dass ein Abt Kinder hinterlassen haben sollte.  

Vor den Stadttoren wurde die Nacht noch düsterer, doch Falk ließ sich nicht beirren. Er nahm eine Weggablung, die Marit nicht kannte. Sie schien, das war im schwachen Fackellicht auszumachen, auf ein Wäldchen zuzuführen. Talpa brach die Stille.

„Was erwartet uns dort, Eure Seligkeit?“

Der Erzpriester ließ sich so lange Zeit mit der Antwort, dass Marit schon meinte, er ignoriere die Frage bewusst. Dann blieb er abrupt stehen und drehte sich zu Marit um, obwohl Talpa es war, die neben ihm geduldig wie immer auf Antwort hoffte. Zwei harte Augen blickten die Nortgarderin an.

„Der Unglaube in seiner pursten Form.“

Falk wandte sich um, nahm Pentos die Fackel aus der Hand und beschrieb einen großzügigen Bogen mit ihr. Die Umrisse eines ärmlichen kleinen Gehöfts schälten sich aus der Finsternis – eine Keusche. Daneben eine kleine Koppel, für die das Licht nicht mehr ausreichte. Dem Dach fehlten Schindeln und die angrenzenden Zäune wirkten morsch. Das Haus, einer Hütte näher als einer statthaften Niederlassung, stand einsam, ringsum nur von Obstbäumen umgeben. Ein leises Klingeln, als wenige Glöckchen sich bewegten, kündeten von der Anwesenheit des Viehs. Marit hob den Kopf an. Was wollte der Erzpriester hier, mitten in der Nacht? Talpa sah hilfesuchend zu Pentos, der die Schultern anhob, tat ihr aber den Gefallen, nachzuhaken. Die bassige Stimme war gesenkt.

„Wer lebt hier, Eure Seligkeit?“

Der Priester gab ihm die Fackel zurück und schritt auf die Türe zu. Auf der Schwelle hielt er inne und knurrte heiser, zurücktretend:

„Verräter an dem Einen, Anwärter. Nur Verräter.“

Talpa kicherte nervös, den Schild zur Seite werfend. Pentos lachte laut und heiter, als Falk ihm etwas zuraunte. Die Türe wurde mit einem gezielten Stoß der Hellebarde nach innen geschleudert. Marit bemerkte abwesend, wie Übelkeit ihr die Kehle hochstieg.
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
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RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 27.05.2018, 12:09
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 22.06.2018, 18:58



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