FSK-18 Auf dünnem Eis
#9
25. Heuert 1402 (Sommer)

Es konnte nicht mehr lange dauern bis zum ersten Sonnenstrahl. Die Stunde davor zog sich endlos. In ihr verlor Zeit ihre Zuverlässigkeit und wurde unberechenbar. Wo eine geübte Wache sonst gewohnt war, die herunterfallenden Sandkörner ab- und das Vergehen der Zeit akkurat einzuschätzen, verlor sie in der Stunde vor dem ersten Sonnenstrahl den Fokus, den es brauchte für Verteidiger des wahren Glaubens. Sie fühlte die Wange auf dem kratzigen Strohsack, der verlockender schien als ein teures Daunenkissen. Sie kniff sich verstohlen in den Handrücken oder die Wangen, rechnete nach, wie viele Atemzüge in eine Stunde passten oder zählte zum dreiundfünfzigsten Mal die Schindeln am nächstbesten Scheunendach.

In der Stunde vor dem Sonnenaufgang verlor die schweigsame Nortgarderin zuweilen ihre eigentliche Aufgabe für einige Herzschläge lang aus den Augen: den dunklen Fleck finden, der den so perfekt schimmernden Goldjungen entstellte. Die Welt verschwamm in dieser Stunde zu nebulösen und vernachlässigbaren Schemen und alles, was zählte, war, ungebrochen stehenzubleiben, bis die Wachablöse kam. Schlaf sandte seine einlullend singenden Sirenenhorden und sie hatte ihnen wenig entgegenzusetzen. Nur widerwillig erinnerte sie sich in dieser Stunde ihres Auftrags. Konzentration. Für Seine Gnaden Falk. Für den Bestand der Kirche, die es zu schützen galt vor subversiven Elementen wie Gesine Behringer. Für Mithras. All dies war ein Mittel zum Zweck. Eine unausweichliche Notwendigkeit. Gesine Behringer war der Feind. Mehr brauchte sie nicht zu wissen.

„Wer Braten essen will, darf keine Angst vor der Schlachtung haben. Vier Dienste ohne Ergebnisse. Ich erwarte Resultate von dir. Du nennst dich Schwert des Herrn, doch deine Klinge bleibt stumpf und vermag es nicht, die Feinde des Herrn zu fällen, obwohl sie schon auf seinen Thron zukriechen wie die Schlangen, die sie sind. Enttäuschend.“ Falks Worte, bevor er sie zu dieser Nachtwache entlassen hatte.

Sie verstand, wie ungeschickt sie sich anstellte. Während der ersten beiden Dienste wurde ihr bewusst, wie sehr die Kunst der Unterhaltung einem Schwertkampf glich. Übung machte sich bezahlt. Mangelnde Übung verlangsamte einen. Nicht nur, dass sie mondelang jeglichen außerdienstlichen Kontaktversuch ihrer Mitanwärter abgewehrt hatte wie der Dämon das Sonnenzeichen und den Tonfall der Kameradschaftlichkeit nie erlernt hatte, sie war es auch nicht gewohnt, einer Konversation einerseits aufmerksam zu folgen und sie gleichzeitig in potenziell kompromittierende Richtungen zu lenken. Ihr Pfad war immer der gewesen, jedem Anflug von Peinlichkeit in weitem Bogen auszuweichen. Es kam ihr frivol und unpassend vor, nach allzu persönlichen Dingen zu fragen und so ließ sie es wo sie konnte bleiben, die nächste Welle von Falkscher Unzufriedenheit bereits fürchtend. Sie würde ihm die schlichte Wahrheit sagen: sie brauchte mehr Zeit, um den Anwärter kennenzulernen und seine Schwächen auszuloten. Die andere schlichte Wahrheit, dass sie mehr Zeit brauchte, um sich in ihre Rolle einzufinden, musste Falk nicht so schnell erfahren.

Dies war der fünfte Dienst innerhalb von acht Tagen, den sie mit Aurel Behringer verrichtete. Ein Novum für beide. Zuvor war Behringer regelmäßig mit erfahrenen Novizen zur Wache eingeteilt gewesen. Sie waren fünf Anwärter und es brauchte nie mehr als zwei Wachen vor den Tempeltoren. Talpa Ulat hatte sich in der Einteilung sträflich an das System ihres Vorgängers gehalten und den am längsten dienenden Anwärter – Aurel – den Novizen zugeteilt. Der beschwerte sich nicht darüber, wohl in der Hoffnung, während der langen Dienste von den Dienstälteren zu lernen. Marits Wachdienste in den Monden davor, als sie mit den übrigen Anwärtern gepaart worden war, hatte sie mit hauptsächlich einsilbigen Antworten bestritten, wenn man sie etwas fragte und sich ansonsten in ihrer Königsdisziplin, der Ignoranz, geübt. Weder Pentos’ plumpe Art, Philomenas vorgetäuschte Busenfreundinnenhäppchen noch Talpas Unterwürfigkeit hatten sie aus der Reserve gelockt. Kindlichere Gemüter wie Pentos bevorzugten während der Wache seichte Sprachspielchen, Spottgedichte über tumbe Mondwächter oder flüsternd übermittelte Witze, die, kämen sie Ordensmeisterin Behringer zu Ohren, für einige Wochen Latrinendienst gesorgt hätten. Weder Marit Stein noch Aurel Behringer sahen ihr Gemüt als ein kindliches an und verzichteten von Anfang an auf derlei.

Es war, das erstaunte Marit Stein selbst am meisten, erstaunlich wenig unangenehm, sich mit dem Neffen der Ordensmeisterin zu unterhalten. Seine Haltung blieb eine formelle, aber freundliche. Er stellte nie Fragen, die sie als bedrängend empfand. Er nannte sie nie anders als „Anwärterin Stein“ während des Dienstes und kreiste lieber um größere Themen als persönliche Befindlichkeiten. Glaubensfragen, politische Diskussionen oder strategische Ideen zum Krieg in Indharim. Sie war dankbar dafür. Die Mauer, die sie um sich errichtet hatte, musste nicht gänzlich eingerissen werden für diese Rolle der Spionin, in der sie so fremd war. Es war nicht notwendig, über die dunklen Flecke ihrer eigenen Vergangenheit zu lügen. Das Thema Geschwister wurde anfangs einmal gestreift und sie erläuterte den Wunsch der Steinschen Eltern, die Kinder Mithras auf bestmögliche Weise dienen zu sehen und erklärte, man sei zum Zeitpunkt ihres Weggangs aus Nortgard nicht genau im Bilde gewesen über die Natur von Hermeno Falkners Kirche in Silendir. Ihre Eltern hätten angenommen, man versuche lediglich, den Einfluss der Kirche auch in anderen Lehen auszubauen und es daher als besten Weg angesehen, je einen Stein in eins der Hauptzentren des Glaubens auszuschicken. Sie selbst hielte aber Falkners Weg für den weitaus besseren. Die Haltung des Bewahrers der Mithraskirche Löwensteins sei eine zu lasche und durch solch eine Untätigkeit wie er sie an den Tag legte, würde der verstaubte heidnische Glaube sich ungehemmt weiter verbreiten. Aurel teilte ihre Meinung und erzählte freimütig, er habe einen seiner engsten Kindheitsfreunde an die Mondwächter verloren – ein Umstand, der ihn schon in mehr als einer Nacht wachgehalten habe.

In diesem Dienst drehten die Gespräche sich hauptsächlich um die heimatlichen Gebräuche und kirchlichen Feste. Wie es in Nachtdiensten mit Aurel Behringer häufig vorkam, konnte ein Gespräch entgleiten und erst einen gefühlten halben Stundenlauf später wieder aufgenommen werden. Er tendierte zu Grübeleien und ließ sich manchmal Zeit mit einer Antwort. Zeit war etwas, das sie im Überfluss hatten. Sein Schweigen störte sie nicht. Sie ließ ihn vor sich hinsinnieren und zählte Schindeln. Wenn Marit Stein in Silendir etwas gelernt hatte, war es, nicht an der Zeit festzuhalten. Das ließ sie nur langsamer vergehen.

„Könnt Ihr Euch an Euer erstes Lichterfest entsinnen, Anwärterin?“

„Aye, natürlich. Wir wurden gewiss schon vorher mitgetragen, aber das erste, an das ich mich erinnere, ist jenes im Jahr 1381. Ich war beinahe fünf. Wir spielten während der Lichterprozession Verstecken. Ich wollte gewinnen.“ Es war mehr als 20 Jahre her und sie spürte ihre Wirbelsäule vereisen als wäre es gestern gewesen. Sie war eine schlechte Verliererin gewesen, zu stur für jedes Spiel. Gewann sie nicht, war ihre Laune unwiederbringlich hinüber. Der Punkt, an dem sie hätte aus ihrem Versteck kriechen sollen, war rasch übersehen. Die Lichterprozession war rasch vorbeigezogen, das letzte Licht rasch außer Sichtweite, die letzte Kerze rasch in Sicherheit gebracht. Die Gläubigen eilten auf ihre Herdfeuer zu ohne einen Blick zurück.

Schweigen. Sein Blick folgte einem Spatz, der durch den Hof segelte und sich auf einer Birke niederließ. „Aber Ihr wurdet gefunden.“

„Ein Lenzing in Nortgard ist nicht dasselbe wie ein Lenzing in Silendir, wisst Ihr, Anwärter? Der Schnee im Norden macht keine Anstalten, zu schmelzen, weil im Süden der Frühling regiert. Ich wurde gefunden, aye. Blaugefroren, ein paar Schritt vom Weg entfernt, störrisch in einer Mauerspalte hockend.“

„Wer hat Euch gefunden?“

Yngvar. Natürlich Yngvar. Sonst war niemand auf die Idee gekommen, in dem Zwischenraum nachzusehen. „Ich erinnere mich nicht. Es war jedenfalls eine saftige Lehre, den richtigen Pfad nicht zu verlassen. Aber wie kommt Ihr auf das Lichterfest?“

„Ach, ich wollte Euch nach einem Brauch fragen, den wir hier in Silendir ausüben. Wir heben den Stummel der ersten Lichterfestkerze auf und bewahren ihn als Andenken. Meinen trage ich immer in der Gürteltasche.“

„Ah?“

Er zog sich die Handschuhe von den Fingern und öffnete den Verschluss. Finger, stundenlang weitgehend unbewegt, verlangsamt von der langen Wache, suchten in der Gürteltasche nach dem Kerzenrest. Er hielt ihn in Händen, sanfter als erwartet, streute aber ungeschickt ein paar Münzen mit aus.

„Lasst nur, Anwärter.“ Schon bückte sie sich, wendiger als er und sammelte das Kleingeld ein. In ihrer linken Hand glänzten die Heller bronzen. Nur eine Münze hob sich vom Rest ab. Marit nahm sie zwischen zwei Finger und hielt sie interessiert hoch.

„So eine habe ich noch nie gesehen.“ Die Münze war ebenso bronzen wie ihre Hellergeschwister und wäre nicht weiter aufgefallen, hätte man sie nicht aus der Nähe betrachtet. Sie trug nicht wie andere Münzen das Konterfei eines Herrschers, sondern war auf einer Seite gänzlich blank. Auf der anderen waren zwei breite Buchstaben selbstbewusst eingestanzt worden: M und A.

„Sie gehörte meinem Freund. Ihr erinnert Euch?“ Sein Lächeln war so glatt, man hätte darauf ausrutschen können. Es kam rasch und sehr bereitwillig.

„Dem Mondwächter.“

„Dem Mondwächter. Mattis Angert.“ Er hielt ihr die Hand hin. Schnell und mit einem nachgereichten Charmebolzenlächeln, das nicht zu ihm passte.

Sie überließ ihm die Münze und erwiderte das Lächeln in einem Anflug von halbvergessener Koketterie.

Du lügst. Ich weiß nur noch nicht, warum.
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
3. Vor der Lichtwache - von Marit Stein - 11.04.2017, 13:13
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 01.06.2017, 01:31
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 04.08.2017, 11:52
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 06.08.2017, 16:11
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 17.08.2017, 20:10
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.08.2017, 12:20
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.12.2017, 18:22
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.12.2017, 21:03
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 31.01.2018, 22:58
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RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 16.04.2018, 21:06
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 27.05.2018, 12:09
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 22.06.2018, 18:58



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