FSK-18 Auf dünnem Eis
#3
2. Hartung 1402 - WINTER

Der Schlafsaal war verwaist an diesem Wintermorgen, dem Vortag der Lichtwache, die seit Mithras‘ Erscheinen jenen Tag kennzeichnete, an dem landauf, landab Kerzen, Laternen und Fackeln entzündet wurden, um das Dunkel zu bannen. Mithrasgläubige aller Lehen suchten das Licht mit besonderer Aufmerksamkeit an jedem dritten Hartung, um die finsteren Mächte abzuwehren, die beständig im Hintergrund lauerten und die kleinste Lücke in der Wachsamkeit der Mithrasdiener nutzen würden, ihre garstigen Pläne zu verwirklichen. Hektische Betriebsamkeit hatte die Anwärter und Novizen an diesem Morgen erfasst, denn die Aufgabe, Lichtquellen im Tempel und um ihn herum aufzustellen, fiel wie immer ihnen anheim. Für die Feierlichkeiten am nächsten Tag sollte alles bereit sein, denn dann wollte man sich nicht mehr auf Geschäftigkeit konzentrieren, sondern auf seinen Glauben allein besinnen. Nur eine Anwärterin nahm nicht an dem allgemeinen Gewusel teil.

Auf dem Bett am zugigsten Fenster, das man traditionell den niedrigsten in der Rangfolge zuwies, saß eine gekrümmte Gestalt mit leerem Blick, die Hände neben sich aufgestützt. Zwar war der Schlafsaal elendiglich kalt und die Gestalt nur in ein dünnes Hemd gekleidet, doch zitterte sie weder noch schien ihr die ungenügende Kleidung überhaupt bewusst zu sein. Ja, man hätte fast den Eindruck gewinnen können, es hätten Blendbomben vor ihr explodieren können und sie hätte ihre Reglosigkeit dennoch beibehalten.

Niemandem war ihr Zurückbleiben aufgefallen. Niemand achtete auf das unbekannte Gesicht, auf diese Fremde, die spätnachts in den Schlafsaal gebracht worden war, am Arm geführt wie eine Blinde, von einem Wache haltenden Novizen, der sich auch im Dunkeln zwischen den zahlreichen Betten zurechtfand. Die übrigen Anwärter und Novizen waren zu sehr mit sich selbst und ihren gerade an diesem Tag überhand nehmenden Aufgaben beschäftigt, um sich um den Neuzugang zu kümmern. Die Obrigkeiten schließlich kannten ihr Gesicht noch nicht und wähnten die Schülerschaft vollständig.

So wusste kaum einer von ihrer Nacht im Beichtstuhl. Kaum einer außer Seine Gnaden Laurenz Falk, seines Zeichens Priester der Heiligen Kirche unter Hermeno Falkner.

Marit Stein hatte in ihrem Leben nicht viele Priester gekannt. Vor dem unerbittlichen, geradlinigen Vater Tjordan, der Hammerhalls Säule des Mithrasglaubens verkörperte, hatte es in der rauen Hauptsiedlung Nortgards einen sanften, jungen Priester gegeben, dessen weiche, nachgiebige Art für diesen Ort nicht geschaffen war. Er konnte leidlich gut erzählen und fühlte sich auf einer Kanzel wohl, räumlich säuberlich getrennt von den Gläubigen, möglichst weit ab von ihren Körpern, ihren Nöten, ihren Wünschen. Am glücklichsten war er aber vor einem Kaminfeuer, wo er sich die Augen beim Studium seiner Bücher verdarb. Er verblühte rasch, gleich einer Ähre, die vom Wintereinbruch überrascht wird und niemals zu voller Größe erwächst. Vater Tjordan hingegen war anders.

Er war Beichtvater, Richter und Urteilsvollstrecker in einem. Ihn „Vater“ zu nennen, schien nur natürlich. Niemand zeichnete das Sonnensymbol mehr nachlässig, niemand wagte es, den Namen des Herrn für einen Fluch in den Mund zu nehmen, wie es unter seinem Vorgänger der Fall gewesen war. Vater Tjordan passte nur zu gut an diesen Ort, diesen Kern Nortgards, an dem das Leben nur allzuoft in ein Schwarz oder Weiß eingestuft werden musste, weil es nicht anders ging. Man hatte entweder Feuer oder man hatte keines – dann erfror man eben. Man schuftete sich den Rücken krumm – oder verhungerte, wenn man auf der faulen Haut lag. Man wickelte einen Harnisch aus Fellen und Leder um sich, bevor man sich in die Schneewüsten des weißen Lehens begab – oder büßte mit Erfrierungen. Nortgard verzieh keine Nachlässigkeiten oder Schlampereien, keine Faulheit, keinen Sanftmut, und war darin Vater Tjordan nur allzu ähnlich. Er war es auch gewesen, der Yngvar und Marit durch seine Lehren auf rechte Pfade führte, als die Begierde füreinander sie hinfortzutragen drohte wie eine Flutwelle das kurshaltende Schiff. Dass Vater Tjordan zuletzt nicht mehr vermocht hatte, die beiden in ihre Schranken zu weisen, war ihm nicht zum Vorwurf zu machen. Er hatte die flammende Entschlossenheit von Liebenden, die jedes Verbot auszuhebeln wissen, das ihnen den Weg zueinander verbaut, wenn es auch noch so hehrer Natur sein mag, frappant unterschätzt. Als nüchterner, leidenschaftsloser Mann, der er war, fehlten Vater Tjordan auch die eigene Erfahrung und das Verständnis dafür, wie himmelschreiend schwach das Fleisch sein kann, wenn der Geist auch noch so unendlich willig ist.

1. Hartung 1402


Nachdem ihr Wehr und Waffe ausgehändigt worden waren und sie sich mithilfe einer enervierten Novizin, die diese niedere Aufgabe nur naserümpfend ausführte, in die Rüstung gezwängt hatte, hatte Marit Stein im Schatten einer Säule im Tempel verharrt, bis die letzten Gläubigen nach dem Abendgebet hinausgetröpfelt waren. Das „Sei mein Schild, oh Herr!“ der Gemeinde klang ihr noch in den Ohren in seinem Silendrisch fremden Singsang, tröstlich einerseits, weil sie die Worte kannte, befremdlich andererseits, weil sie anders betont wurden als zuhause, was sie beim Beten über die Silben stolpern ließ als seien diese Steine, die ein hämischer Geist zum Hohn ausgelegt hatte. Sich fremd im eigentlich Bekannten fühlen ist die pure, destillierte Einsamkeit.

So also fühlte es sich an, wenn man den Schritt tat von einer Chorsängerin zur Anwärterin der Legion Silendirs. Die Rüstung, obschon nur aus Lamellen gefertigt, schien ein Eigenleben zu haben und sie in die Knie zwingen zu wollen mit ihrem Gewicht. Während des Abendgebets konzentrierte sie sich vor allem darauf, diesen fremden Panzer zu beherrschen, der sie nun umschloss. Sie wollte die von Ordensmeisterin Behringer angeordnete Beichte nach dem Abendgebet hinter sich bringen. Es hatte keinen Sinn, Notwendiges unnötig hinauszuzögern. Die Ordensmeisterin hatte Beichte verordnet, und beichten würde sie, und zwar beim erstbesten Priester, den sie traf. Eine Beichte war, so hatte es sie die Erfahrung mit Vater Tjordan gelehrt, kein sinnlos langes Palaver. Vater Tjordan hatte Effizienz geschätzt und wollte von den Büßern direkte, gerade Sätze hören. Der Priester, der das Abendgebet gesprochen hatte, verharrte kniend vor dem Altar. Sie wusste nicht, ob er ihre Anwesenheit wahrgenommen hatte und entschied sich dazu, abzuwarten, bis er sein Gebet beendet hatte.

Es war nicht so einfach, sein Alter einzuschätzen, aber er zählte wohl an die vierzig Winter. Keiner der Priester, die Marit kannte, sah aus wie dieser. Sie waren Männer gewesen, denen man den Hang zum Sitzen ansah, die Liebe zu reichhaltigen Speisen, die den Körper als bloße Last empfanden, einen Klotz am Bein, der den Geist durch seine Bedürfnisse daran hinderte, sich zu voller Größe zu entfalten. Ohne die herrlich rote Robe, die ihn der Priesterschaft zuordnete, hätte man den Silendirer Priester leicht für einen Legionär halten können. Er bewegte sich zu agil, zu flüssig, um in Marits Schublade der Priesterschaft zu passen, der sie ruhige und langsame Gesten zuordnete. Der Eindruck eines kampfbereiten Soldaten vor Mithras wurde durch die neben ihm am Altar lehnende Klinge nur erhärtet. Erst als der Priester sich umdrehte und ins Kirchenschiff hineinblickte, kam Bewegung in die wartende Anwärterin. Ein herrischer Deut und ein geknurrtes Kommando beorderten sie nach vorne, während er sich den Waffengurt samt Klinge umband. Scheppernd trat sie vor, ungelenk in ihrer gepanzerten Haut, die nur weiche Stoffe gekannt hatte und gegen diese unwillkommene Änderung einer 25-jährigen Routine schon jetzt aufbegehrte. Die Rüstung scheuerte an Ellbogen und Knien.

„Tritt hervor, Kind. Was ist dein Begehr‘?“

„Mithras‘ Licht, Euer Gnaden. Ich will die Beichte ablegen.“

„So sei es. Dein Name?“

„Marit Stein, Anwärterin der Heiligen Legion Silendirs.“ Der Name, zum ersten Mal in diese neue Form gegossen, klang entsetzlich fremd und glitt ihr doch erstaunlich leicht über die täuschungsaffinen Lippen, leicht wie die fantastischen Schwindeleien, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen waren, wenn sie Yngvars Nähe suchte.

„Du lügst.“ Eine Feststellung, so schlicht wie entsetzlich wahr. Eh sie noch antworten konnte, riss sie ein schraubstockartiger Griff am Arm in eine mit kaltem Stein gepflasterte Kammer, vielleicht drei mal drei Schritt groß, fensterlos, verhangen mit schweren, blutroten Wandteppichen, deren Verankerung nicht auszumachen war. Eine geschickte Maßnahme, um Gläubigen den Eindruck zu geben, die blutroten Himmel über ihnen könnten jederzeit auf sie herabstürzen. Das einzige Möbelstück in dem beengenden Raum war ein Beichstuhl aus dunklem, fast schwarzem Holz. Die Hand des Priesters ließ sie los und wies einladend auf den Beichtstuhl, mit einer Selbstverständlichkeit als weise sie willkommene Gäste an, sich an eine reich gedeckte Tafel zu setzen.

„Warum lügst du?“ Jede Bewegung, die sie vollführte, war eine mechanische, schwerfällige. Die Rüstung erlaubte ihr nicht mehr, sich zu bewegen, wie sie es gewohnt war. Selbst Niederknien dauerte viel zu lange. Das dumpfe Geräusch, mit dem die Knie das abgenutzte Holz berührten, hatte etwas Endgültiges. Die Teppiche dämpften jedes Geräusch, das sonst nachgehallt hätte in der steinernen Kammer. Die Worte kamen stockend. Wenigstens die Türe stand offen. Sie versuchte, aus diesem Wissen Kraft zu schöpfen und sich auf die hereinströmende Frischluft zu konzentrieren. Der Priester hatte sich vor ihr aufgebaut, die Hände am Rücken übereinandergelegt, einem Feldherrn ähnlicher als einem Beichtvater.

„Dieser Name ist ein neuer. Er kommt mir noch schwer über die Lippen. Doch Lüge ist es keine. Ordensmeisterin Behringer erlaubte mir, den alten Namen abzulegen. Sie sagt, was ich war, zählt für sie nicht mehr. Ich soll..“ Sie richtete die Augen auf das alte Holz des Beichtstuhls, das schmal in Höhe ihres Kinns auf arme Büßer wartete, die einen Augenblick Erlösung suchen und geplagte Hände darauf ablegen mochten. „Ich soll ablegen, wer ich war und werden, wer ich sein soll.“

„Schöne Worte. Leere Worte. Wer warst du?“

Sie schwieg.

„Wer warst du?“ Die Worte kamen nur umso fordernder. Es war eine irre Hoffnung gewesen, zu glauben, dieser Priester würde sich mit den Worten begnügen, die der Ordensmeisterin gereicht hatten. Er tat einen Schritt nach vorn.

Das Schweigen kroch ihr aus jeder Pore und verdickte die Luft in dem Beichtzimmer zusehends.

„Ein letztes Mal: Wer warst du?“

Sie schloss die Augen. Die Schärfe seiner Frage durchtrennte die Stille mühelos, ein Messer durch allzu weiche Butter. Die zwei Namen krochen ihr über die Lippen als trügen sie einen unkontrollierbaren, wilden Zauber in sich eingekapselt, der die Macht hatte, die Welt aus den Angeln zu heben.

„Vigdis. Vigdis Stein.“

„Weißt du, was man in Silendir mit abgeernteten Feldern tut, Vigdis?“ Der Name, zurückgeschleudert, traf sie wie eine Ohrfeige.

„Ich stamme aus Nortgard. In meinem Lehen sind Felder rar.“

„Man brennt sie nieder. Die Asche ist der Dünger, aus dem die neuen Pflanzen erwachsen. Ohne sie wächst das Neue nicht. Warum graut dir vor deinem Namen?“

„Er birgt Vergangenheit.“

„Und du glaubst, weil du ihn ablegst, lässt sie sich verleugnen? Nur die Beichte vermag es, deine Not zu lindern. Die Buße. Die Einsicht. Das Gebet. Buchstaben für andere Buchstaben auszutauschen ist Augenauswischerei. Denkst du, Mithras kümmert dein Name? Das tut er nicht. Der Lichtbringer liebt die Wahrhaftigen, die nicht versuchen, sich vor seinem gleißenden, blendenden Licht zu verbergen, sondern ihn in jeden dunklen Winkel ihres Herzens lassen. Dein Name vertuscht gar nichts. Es ist der lächerliche Versuch des Bauers, der sich einen Helm aufsetzt und fortan Soldat nennt. Eine Posse nur, die niemanden überzeugt.“

Mit jedem seiner Worte schien die Rüstung ihr enger an den Leib zu wachsen, als habe sie im Sinne, das letzte Quentchen Luft zwischen Haut und Panzer zu verdrängen. Ein Trugbild, sie wusste es wohl in einem verständigen Winkel ihres Kopfes, doch sie fühlte, der Lamellenkragen wolle sie erwürgen und der Harnisch ihr den Brustkorb eindrücken.

„Helft mir. Vigdis kann ich nicht mehr sein.“ Ein bloßes Flüstern.

„Wer Hilfe sucht, wird Hilfe finden, denn der Herr ist groß und seine Macht unendlich. Ich werde diese Vigdis abschaben wie ein missglücktes Porträt von einer teuren Leinwand. Du magst dich hernach nennen, wie du willst. Es wird dich nicht mehr kümmern, aus welchen Buchstaben dein Name besteht.“

Damit schlug er die Tür ins Schloss.
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
3. Vor der Lichtwache - von Marit Stein - 11.04.2017, 13:13
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 01.06.2017, 01:31
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RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 06.08.2017, 16:11
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 17.08.2017, 20:10
RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 28.08.2017, 12:20
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