FSK-18 Auf dünnem Eis
#2
1. Hartung 1402 - WINTER

Ordensmeisterin Gesine Behringer ließ sich Zeit. Langsam tunkte sie die Feder in das dafür vorbestimmte Fass, behutsam setzte sie die Feder auf dem glattgestrichenen, vorbereiteten Pergament ab, bedacht begann sie, einen möglichst aussagekräftigen Bericht für Hermeno Falkner über die Fortschritte ihrer Anwärter, Novizen und Legionäre zu verfassen. Ordensmeisterin Behringer gehörte zu den wenigen in den Reihen von Falkners Legion, die am Schreiben von Berichten Vergnügen fand. Sie mochte ihre Ordnung, ihr abgestecktes Feld, die Klarheit, die sie versprachen, die Struktur, die sie mit sich brachten. Für einige Stundenläufe konnte sie so in ihrer Schreibhaltung verbleiben, ab und an einen Schluck von ihrem gewässerten Wein nehmen, sich gelegentlich durch das pechschwarze Haar streichen, das sie kurz wie Igelstacheln trug und zur Türe blicken, wenn sie für einen Moment ihre Gedanken sortieren musste. So hielt sie es auch heute. Kurzfristig verlor sich ihr Blick an dem Holz, das ihr Drinnen vom Draußen der Bittsteller trennte. Die Türe war aus massiver Ravinsthaler Buche und schirmte Ordensmeisterin Behringer von dem langen Gang, auf dem die fleischgewordenen Ablenkungen verharrten, ab. Sie brauchte allerdings keine Geräuschkulisse und kein Bild, um sich zu erinnern, wer dort saß.

Die junge Frau vor der Türe der Ordensmeisterin zählte zur Kategorie „So verloren, dass ich mir nicht einmal Zeit nahm, meine Reisekleidung fortzuwerfen, um mich in sauberere Gewänder zu hüllen“. Immerhin war es Winter, sodass der Staub nicht zu arg an ihr klebte. Zumindest Gesicht und Hände der Abwartenden waren sauber, so wie die kurzen Fingernägel. Ordensmeisterin Behringer las Menschen jeden Tag. Diese hier war auf den ersten Blick ein offenes Buch, wie so viele vor ihr. Beinah hätte sie sie ausgebrannt nennen können, wenn da nicht noch etwas gewesen wäre. Gesine Behringer ließ die Feder sachte mitten im Bericht über die Geschwister Kaltschlächter sinken und suchte nach einer passenden Beschreibung, einem Bild. Als sie es gefunden hatte, nahm sie die Feder wieder auf. Berichte schreiben war ihr so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie anderen Gedanken nachhängen konnte, während sie Fakten für die Ewigkeit aufs Pergament zwang.

Die Interessentin war ein Glutnest, das war sie. Manch einer hat die Macht eines beinah gelöschten Feuers schon unterschätzt und sich, sein Hab und Gut, sein Haus, seinen Hof, seine Lieben, in Sicherheit gewähnt, sein Herdfeuer, Lagerfeuer oder Hoffeuer gelöscht gewähnt. Man meint, die Scheite seien heruntergebrannt und die Wärme vergangen, doch unter weißschwarzen Ascheflocken, verkohltem Holz und Debris glimmt etwas weiter, unentdeckt und heimlich, behauptet sich gegen Wind und Wetter, gegen Löschversuche, gegen die Zeit. Unter der Orientierungslosigkeit, der Verlorenheit und Verzweiflung gloste etwas, das Ordensmeisterin Behringer davon abhielt, die Interessentin fortzuschicken. Es brauchte aber einen Wind von außen, um es freizulegen, das erkannte Behringer. Diese Interessentin würde nicht allein wieder brennen, nicht von selbst das Feuer entfachen können. Reich genug, die Kleidung nicht zu waschen und abzuwarten, bis sie von selbst trocknete, sondern neue zu erstehen, war die junge Frau. Das Wolfsfell um die Schultern, die pelzgesäumte Gugel, ja, selbst die Haltung, ungebeugt noch im Angesicht ihrer Verzweiflung, verrieten dies. Wenn hier nicht persönliche Tragödien hinter einer Flucht standen, wollte Gesine Behringer Damon Vorbis heißen. Für persönliche Tragödien interessierte sich sich allerdings so viel wie für Modeströmungen – gar nicht. Niemand, der freiwillig sein Heim verlässt, sah so desorientiert aus wie die Interessentin. Nein, aus freiem Willen war sie nicht hier. Aber es hatte sie auch niemand herbegleitet, niemand abgeliefert, niemand drohend Wache vor den Tempeltoren bezogen, wie es bei manch einem Spross aus besserem Hause der Fall war, wenn er in Ungnade gefallen war und der Legion übergeben werden sollte, weil man darin die letzte Möglichkeit war, Familienehre zu retten.

Es war nicht ratsam, Interessenten das Gefühl zu geben, die Welt kreise um sie. Die Welt scherte sich einen Dreck um sie, und je eher sie das lernten, desto besser. Erst mussten sie sich den Respekt der Welt erarbeiten – und Behringers. Viele glaubten allerdings, besondere Zuwendung verdient zu haben, nur weil sie sich für den Dienst in der Legion begeisterten und den Wunsch äußerten, bei der Ordensmeisterin vorsprechen zu dürfen. Das hatten sie nicht. Zunächst einmal wurden sie auf der Liste von Behringers zu erledigenden Tätigkeiten ganz unten eingereiht. Spezielle Zuwendung schenkte sie keinem Anwärter, sie schenkte sie keinem Novizen. Und schon gar nicht hatte sie Interesse daran, diese Zuwendung einem unerfahrenen Grünschnabel wie dieser Nortgarderin zuteil werden zu lassen.

Wenn die Interessenten ein paar Stunden draußen auf der harten Eichenbank ausgeharrt hatten, nicht zu Tode in ihrem Stolz gekränkt wieder abgezogen waren, sondern Sitzfleisch bewiesen hatten, mochte man weitersehen. Es war eine effektive Methode, und sie vergeudete keine Zeit, die Behringer ohnedies nicht hatte. Diese Vorgangsweise erlaubte Behringer, die besonders Schwachen von Vornherein auszusieben. Die aufgezwungene Wartezeit machte die Ordensmeisterin pragmatisch abhängig von dem ersten Eindruck, den die Interessenten bei ihr hinterließen. Arrogante Erstgeborene mit Berühmtheitsallüren warteten am längsten. Danach kamen muskelstrotzende Krieger, die gewohnt waren, ihren Willen durchzusetzen, weil sie eine schrankähnliche Statur und eine harte Faust besaßen. Gesine Behringer pflegte überaus herzlich und zahnlastig zu ihnen hinaufzulächeln und ihnen mitzuteilen, es werde ein Weilchen dauern, sie mögen sich an die Luft im Tempel gewöhnen und einstweilen in sich gehen, den Herrn um seinen Segen bitten oder sich vorbereiten auf das Gespräch. Überpflegte Möchtegernbaronessen rangierten an dritter Stelle. Schleifchen im Haar oder berüschte Blusen waren ihren Ansinnen dabei nicht zuträglich, was den Schlaueren dämmerte, wenn sie Behringer zum ersten Mal erblickten. Milder ging sie mit den verlorenen Schäfchen um, den still Verzweifelten. Die ließ sie nur warten, damit sie Gelegenheit bekamen, sich zu sammeln und zu besinnen, ob nicht doch ein anderer Weg, der eines Handwerkers oder Stadtbeamten, gescheiter wäre. Wenn niemand die junge Nortgarderin draußen hergebracht hatte, dann hinderte auch niemand sie daran, den Tempel wieder zu verlassen. Gesine Behringer verachtete Wankelmut und sparte sich gerne die Peinlichkeit, einmal aufgenommene Anwärter wieder entlassen zu müssen. Das machte sich nie gut in Berichten.

Der letzte Punkt am Satzende wurde nicht weniger sorgfältig an seinen Platz gesetzt wie seine zahlreichen Vorgänger. Schludrigkeit war ihre Sache nicht. Es gab nichts mehr, das sie in diesem Zimmer noch hätte erledigen können. Ein Blick zum Fenster verriet die Zeit – zwei Stundenläufe mussten vergangen sein, seitdem sie der Interessentin einen Platz auf der Bank zugewiesen hatte. Es war an der Zeit, nachzusehen, ob sie ausgeharrt hatte, wie ihr aufgetragen worden war. Gesine Behringer richtete die Schriftstücke auf ihrem Schreibtisch, legte die Feder auf die dafür vorgesehene Ablage und überprüfte ihre Finger aus Gewohnheit auf unwürdige Tintenflecke. Nichts. So wie immer.

„Nun kommt herein. Setzt Euch.“

Schweigen. Eine gerade Haltung. Die Augen wach. Es lag nichts Bittendes darin. Die Interessentin mauerte sich ein. Behringer fühlte sich irritiert davon und nahm wieder auf ihrem schweren, gepolsterten Stuhl Platz. Ein gesundes Maß an Servilität hatte noch niemandem geschadet, der etwas von ihr wollte. Die Anwärterin auf ihrem harten Stuhl gegenüber schwieg weiter. So eine also. Manche plapperten, sobald sie den Raum betraten, um die unangenehme Stille zu überbrücken und flüchteten sich in Plattitüden oder stürzten sich verzweifelt auf Kommentare über das Wetter.

„Wie heißt Ihr?“

Sie hatte Besseres zu tun, als abzuwarten, bis die Interessentin sich gemütlich im Gespräch einrichtete. Mit der ungebrochenen Stille, die sich sofort nach ihrer Frage, dieser alleroffensichtlichsten Frage, wieder über das Zimmer senkte, hatte sie allerdings noch nie zu tun gehabt. Das war doch nicht so schwer. Jeder konnte auf diese Frage antworten.

„Nun?“

„Mein Name muss ein anderer werden. Ich will ihn nicht mehr tragen.“

„Ihr könnt den Namen Eures Mannes nicht einfach ablegen. Und wenn Ihr glaubt, hier aus einer unglücklichen Ehe flüchten zu können, werde ich Euch unverzüglich die Türe weisen. Die Ehe ist heilig vor Mithras, das wisst Ihr.“

„So meine ich das nicht.“

Mein Name muss ein anderer werden. Du weißt nicht, was ich bin und du sollst es nicht wissen. Selbst wenn ich es wollte, ich bringe es nicht über die Lippen. Ich kann es dir nicht sagen, auch wenn du die Wahrheit verdienst, Ordensmeisterin. Frag mich nicht danach, ich habe keine Antworten, die ich in Worte fassen will. Ich will dich nicht anlügen, aber die Wahrheit kann ich nicht aussprechen. Jedes Mal, wenn jemand „Vigdis“ zu mir sagt, werde ich nur seine Stimme hören und in den Abgrund stürzen wollen. „Vigdis, ich will dir was erzählen!“ – so oft gehört, so oft, so oft, zu selten. Jedes Mal, wenn jemand „Vigdis“ flüstert, werde ich an jede süße Heimlichkeit denken müssen, gestohlene Küsse hinter Türen, minutiöse Planung, zugeflüsterte Wahrheiten, die vielen Verstecke, die Hütte am See. Jedes Mal, wenn jemand „Vigdis“ ruft, werde ich mich nach ihm verzehren, weil mir jeder Augenblick gewahr werden wird, in dem er meinen Namen geschrien hat, mit dieser endlosen, gefährlichen Unbekümmertheit, die einen ergreift, wenn man den festen Griff auf die Realität endlich verliert. Vigdis gehört ihm zu sehr. Vigdis muss sterben.

„Wie meint Ihr es dann?“

„Ich möchte den Namen meiner Großmutter annehmen. Ihren Vornamen: Marit. Sie war eine mithrasfürchtige Frau und mir stets ein Vorbild, an dem ich mich orientieren will. Und ich bin nicht verheiratet.“

Nun war Behringer diejenige, die das Schweigen seine lautlos attackierenden Tentakel um sich und die andere schlingen ließ, während sie diese seltsame Frau mit ihrem seltsamen Wunsch studierte. Was mochte sie dazu bewegen, ihren eigenen Namen abgeben zu wollen als wäre er ein Makel? Aber sie war auch die, die schließlich den Faden wieder aufnahm.

„Warum seid Ihr hier, Fräulein..?“

„Stein.“

Sie würde abyssverflucht zumindest den Nachnamen behalten – letzte Erinnerung an die Heimat und alles, was mit ihr verbunden war.

„Ich will der Legion dienen.“

„Warum?“

„Ich bin sicher, jeder der hier sitzt, sagt Euch, der einzige Grund ist seine Liebe zu Mithras. Das ist der erste Grund. Auch ich fühle sie. Ich studiere seine Lehren seit Jahren, weil meine Eltern es so wollten. Doch je länger ich ihnen folgte, desto stärker erwuchs auch der Wunsch in mir, ihm noch treuer und eifriger zu dienen. Nicht nur mit dem Wort, sondern auch der Tat.“

„Und der zweite?“

Marit Stein entschloss sich zu den brutalsten Worten, den wahrsten, den schonungslosesten, denen, die so markerschütternd ehrlich waren, dass sie sich gern zusammengekrümmt hätte, als sie sie von der Leine und in ihrer stählernen, undebattierbaren Wahrheit in die Welt hinausließ. Wenigstens diese konnte sie der Ordensmeisterin offenbaren.

„Mir ist sonst nichts geblieben. Es gibt keinen Ort, an den ich gehen könnte, keinen Ort, an dem ich nützlich sein könnte. Ich unterwerfe mich dem Wunsch meiner Eltern, die mich hierher sandten. Ich suche die Ordnung in einer Gemeinschaft, der ich dienen kann, wie man es mir sagte.“

„Warum hat man Euch fortgeschickt?“

„Ich beging eine Sünde."
Sie schaute auf eine Stelle über Behringers Igelkopf.
„Sünden.“

Behringer blickte die Interessentin unverwandt weiter an.

„Ungebührliches Verhalten.“

Die Ordensmeisterin wog ab. Es war ihr wohl bewusst, welche Strategie die Interessentin verfolgte. Happenweise wurde ihr Information vorgeworfen, die andere schlitterte auf einem Grat dahin, der sie gerade so an der Lüge vorbeiführte, weil sie nicht damit herausrücken wollte, was sie umtrieb. Sie konnte nun weiterbohren. Oder sie konnte Nutzen für die Legion aus der Interessentin schlagen und der Priesterschaft die Seelenarbeit überlassen, deren Geschäft das schließlich war.

„Muss ich mit erzürnten Nortgardern rechnen, die uns demnächst die Tore einrennen? Gehörnten Gatten? Gekränkten Vätern?“

„Das müsst Ihr nicht. Niemand sucht nach mir. Alle, die wissen, dass ich hier bin, finden in diesem Wissen Genugtuung. Niemand wird kommen.“

„Ihr werdet beichten. Nicht mir, sondern der Priesterschaft. Es interessiert mich ab diesem Punkt nicht mehr, was Ihr getan habt, sondern nur das, was Ihr tun werdet. Ihr wisst, was der Eintritt in die Legion bedeutet? Eine Abwendung von allem, was eine Frau in Eurem Alter sonst erwarten kann. Ihr werdet nie den Mithrasbund eingehen. Ihr werdet nie ein Kind in Euch heranwachsen fühlen. Ihr werdet der Silendirer Kirche unter Seiner Seligkeit Hermeno Falkner mit aller Macht dienen, und nur ihr allein, nicht der alten Kirche in Servano mit ihrer weichen Auslegung des Mondwächterglaubens. Ihr werdet diejenigen bekehren, die diesem Unglauben anhängen und sie nicht stillschweigend dulden.“

„Ich weiß es. Ich will es.“

Lass mich verschwinden. Ich will Mithras‘ Wort in dieser Welt umsetzen. Ich will dem Herrn dienen, sonst nichts, sonst nichts, sonst nichts. Ich will in einer gesichtslosen Masse an Legionären untertauchen, ich will ein Gesicht haben, das keiner erkennt.

„Bewahrt Euch dieses Wissen. Von diesem Augenblick seid Ihr Anwärterin der Legion der Heiligen Kirche Silendirs. Beweist Euch, Marit Stein, und beichtet. Legt ab, wer Ihr wart und werdet, wer Ihr sein sollt. Es wird ein harter Weg, den Ihr gehen werdet. Erweist Ihr Euch als unwürdig, werde ich keinen Augenblick zögern, Euch aus diesen Mauern zu verbannen. Ich dulde keine Schwäche und ich dulde keine Rückfälle, kein Zögern und kein Zaudern.“

„Sehr wohl, Hochwürden Behringer.“

„Geht hinunter und meldet Euch bei Streiter Lantos. Er wird Euch Wehr und Waffe geben.“

„Sehr wohl, Hochwürden Behringer.“

„Anwärterin Stein?“

„Ja?“

„Erweist Euch als würdig.“
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
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