FSK-18 Auf dünnem Eis
#1
#12 - 27. Ernting 1402 (I) - SOMMER
#13 - 27. Ernting 1402 (II) - SOMMER
20. Julmond 1401 - WINTER

Der Morgen quälte sich unsäglich langsam über die Bergspitzen, fast so als habe er ein Einsehen dafür, dass er nicht für jeden auf der Welt Erlösung bedeutete. Manches braucht die Nacht, um zu existieren. Manches lebt von Geheimnis, blüht im Dunkel erst auf und vergeht mit dem heranbrechenden Licht, verendet mit dem ersten Sonnenstrahl. Aber unaufhaltsam kam er, der Morgen, so sicher wie das „So sei es!“ im Gebet. Es hätte göttliche Kräfte benötigt, die die des einfachen Volks von Hammerhall überstiegen, um ihn aufzuhalten. Und so hielt niemand den Morgen auf, der in seiner Unbarmherzigkeit zwei Leben trennte, die untrennbar gewesen waren. Nichts regte sich im Kern von Hammerhall. Die Schneedecke, die den Ort zudeckte, war beinah perfekt – wären da nicht die Fußspuren gewesen, die vom schneestummen Kern des Zentrums an den unbesiedelten Rand führten, dort, wo die Hauptstraße die Dorfstraße küsste.

Zwei großgewachsene Frauen verharrten dort, ins Zwiegespräch vertieft. Ein seltsamer Anblick, denn zu dieser Jahreszeit suchte niemand freiwillig diese Isolation. Die Ältere, wohl um die 45 Jahre alt, hielt ihre Hände schwer auf den Schultern der Jüngeren und blickte von einer leicht erhöhten Position am Wegesrand auf sie herab. Das geduldige, geplagte Gesicht trug erste Falten, was die Frau, der es gehörte, aber weder kümmerte noch störte. An diesem Morgen schienen sie ausgeprägter als je zuvor. Tief hatte sich die Sorge eingegraben um die Mundwinkel, fest hatte sich der Kummer in den ernsten Augen eingenistet wie ein unwillkommener Gast, der das Haus nicht mehr verlassen will.

Die Hand der Jüngeren, die wohl 25 Jahre gesehen hatte, hielt die Zügel eines stoisch und beständig Atemwölkchen ausstoßenden Packpferds fest umklammert. Die junge Frau war mit allem ausgestattet, was ein Reisender in Nortgard trug, wenn er dem unbarmherzigen Griff des Frostes entkommen wollte und damit rechnete, den Elementen für lange Zeit ausgesetzt zu sein. Ein schwerer Wolfspelz lag ihr um die Schultern, und eine Gugel, verbrämt mit wärmendem Fell, verdeckte das weißblonde Haar darunter. Die Augen, von einem hellen Braun, ein Spiegel des Augenpaars ihres Gegenübers, blickten die Ältere flehend an. Ein letzter Versuch.

„Geh, Tochter. Geh und tu deinen Dienst an Mithras. Und komm uns nicht mehr unter die Augen, eh du nicht von dieser unsäglichen Sünde und Verderbtheit reingewaschen bist.“

„Mutter, lasst mich wenigstens erklären!“

„Nein. Zu lange schenkten wir euren Ausreden Glauben.“

„Du verstehst nicht!“

„Geh. Vigdis, geh, ehe ich mich vergesse! GEH.“

Es klang ihr noch in den Ohren, dieses allerletzte Wort, das einem Axthieb gleichkam. Wie die ersten Stunden vergingen, hätte sie nicht mehr sagen können, noch, ob ihr jemand begegnete, sie überholte oder gar grüßte. Da war nur Schnee, Eis und diese Leere, dieses entsetzliche Nichts.

Das Pferd tat, was es gut konnte. Es zuckelte brav einen vorgegebenen Weg entlang, ohne nach links oder rechts auszuweichen. Das war einer der weniger offensichtlichen Unterschiede zwischen ihm und seiner Besitzerin, die schneeblind tappte, wohin das Pferd sie führte und es nur zu ihrer Priorität machte, dem warmen Körper des Tiers zu folgen, dem einzigen Bollwerk gegen den Frost, der das Land in seinem unnachgiebigen Griff hielt. Umsonst versuchte sie, die in immer gleichen Bahnen kreisenden Gedanken anzuhalten.

Gestern war alles so klar gewesen. Heute wankte sie in eine unbekannte Zukunft über einen fremden Weg in ein fremdes Lehen, von dem sie kaum etwas wusste. Keiner dieser drei Aspekte hätte sie groß erschreckt, wenn da vertraute, schwere Schritte an ihrer Seite gewesen wären, die sie noch in einer marschierenden Armee erkannt hätte, eine entschlossene Hand, die ihre nahm, ein Arm, der sich um ihre Schultern legte. Yngvar.

Zu sagen, sie litt an seiner Abwesenheit, wäre eine heillose Untertreibung gewesen. Es war vielmehr, als hätte ihr eine unsichtbare Macht die Hälfte ihres Herzens aus der Brust gerissen und es von den Gipfeln der Zwilllinge hämisch gackernd in eine unbekannte Dunkelheit geschleudert. Es war, als würde einem der Boden abrupt unter den Füßen weggezogen. Als bräche das Eis, das man für trittsicher hielt, mit einem Mal ein. Die Kälte in ihren Knochen hatte nichts mit dem Wetter zu tun. Manchmal blieb sie stehen und brüllte seinen Namen in den Wind in der vagen Hoffnung, der Wind möge ein Einsehen haben und ihre Stimme zu ihm tragen. Aye, sie fühlte sich halb wahnsinnig. Alles, was sie vorantrieb, war der tiefe, unerschütterliche Glaube daran, dass Mithras sie noch nicht aufgegeben hatte.

Zwischen dem felsenfesten Gestern und dem zerstörten Heute klaffte ein Spalt. Wie hatte es so weit kommen können? Gestern war die Zukunft heiter gewesen. Geheimnisbelastet, das schon. Aber gleichzeitig von vielerlei Sicherheiten geprägt. Der Sicherheit, in Yngvars Armen der Welt entfliehen zu können. Der Sicherheit, ein Dach über dem Kopf zu haben. Der Sicherheit, die Hand von Mithras über sich zu wissen ebenso wie jene, eine Aufgabe im Leben zu haben. Ihrer Hauptaufgabe war sie nun beraubt.

Gerade 17 geworden war sie mit der Idee angekommen, einen Chor ins Leben zu rufen. Das Leben brodelte in ihr und sie wusste nicht mehr wohin mit all dem ungenutzten Ehrgeiz. Die Welt war so klein und eng zuhause und überall lauerten mahnende Elternblicke, die Näharbeiten bemängelten oder Schreibaufgaben bekrittelten. Sie wollte etwas für sich. Eine Aufgabe. Einen Grund, das Haus zu verlassen. Die Reaktion der meisten Nortgarder Steinschädel in Hammerhall war wie zu erwarten erst einmal schallendes, wenn auch gutmütiges, Gelächter gewesen, als sie bei der Dorfversammlung aufstand und das Vorhaben vorbrachte. Nur der Priester, der hatte nicht gelacht. Sie konnte sich sein Bild vor Augen rufen als stünde sein Porträt vor ihr  – ein ernster, strenger Mann, dessen Schelte sie nicht nur einmal kassiert hatte. Aber in diesem Punkt leistete er ihr unerwartet Schützenhilfe. Vater und Mutter hätten die Idee als bloße Marotte abgetan. Einen Anflug von übersteigerter Glaubensverzückung vielleicht, wie sie so manch ein Jugendlicher durchmachte, wenn er heranwuchs und zu sehr in seiner eigenen Welt lebte. Festen Glauben, das befürworteten die Eltern. Hirngespinste nicht. Vater Tjordans Hilfe aber war es, die den Stein damals ins Rollen brachte. Das, und Vigdis‘ eigene, grenzenlose Verbissenheit, gepaart mit einer Unze Charme, mit der sie am nächsten Tag begann, die Häuser abzugehen, in denen potentielle Sängerinnen saßen.

Ein Kreis von sieben gleichaltrigen Mädchen saß in dem stillen Langhaus, in dem Mithras gehuldigt wurde. Vierzehn nervöse Augen lagen auf ihr. Übersteigerte Selbsteinschätzung war ebenso wenig Vigdis‘ Sache wie falsche Bescheidenheit. Es galt, die Vorsängerin, die Kantorka, zu finden, aber es lag ihr fern, sich selber einfach dazu zu bestimmen. „Wir entscheiden per Abstimmung, wer Kantorka wird. Überlegt euch, was ihr vorsingen wollt.“ Vielleicht war es nur die Unlust der anderen, Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht glaubten sie auch, das herrische Mädchen in ihrer Mitte sollte in dem Fahrwasser bleiben, in dem es sich eh schon befand oder vielleicht hatte Mithras ihre Gebete erhört. Aber Kantorka wurde sie und blieb sie. Nie würde sie vergessen, wie der Chor der Mädchenstimmen zum ersten Mal das Langhaus erfüllte. Es war einer der erhabensten Momente in ihrem Leben gewesen. Nie hatte sie sich Mithras so nah gefühlt wie bei dem Gang durch das dunkle Langhaus, das nur von spärlichem Kerzenlicht erhellt wurde. Der Priester stand am Ende des Ganges und wartete, bis die Mädchen, gekleidet in lange, rote Wollkleider mit Sonnensymbolstickereien, ihn entlanggeschritten waren. Es war ein Spiel vom Ruf der Kantorka zur Antwort der Sängerinnen und wieder zurück.

Mithras obsiegt
Immer
So sei es
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Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 09.02.2017, 20:50
2. In Silendir - von Marit Stein - 22.03.2017, 14:33
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RE: Auf dünnem Eis - von Marit Stein - 01.06.2017, 01:31
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