Sonnenwende
#5
Die Wege sind überall und sie flieht in die Tiefe des Labyrinthes, ohne zu zögern. Jeder Pfad ist so gut wie der Andere, alles was zählt, ist die Dunkelheit abzuschütteln, den beissenden Atem nur für einen Moment nicht im Nacken zu spüren. Aber natürlich gelingt es nicht.
Wie kann sie abschütteln, was sie an sich trägt?




"Es tut nicht mehr so weh."

Wie gern hätte ich diese Worte in den Spiegel gesprochen, in das Antlitz hinein, das mir von dort entgegenblickte und sich vergeblich an einem Lächeln versuchte. 

Es tut nicht mehr weh.

Aber nichts verblasste von der Vergangenheit. Nichts verblasste von den Erinnerungen, die mir ein treuerer Begleiter waren als die allmählich auseinanderfallenden Stiefel, die mich von Eigen nach Löwenstein begleitet hatten. Spätestens mit Beginn des Sommers würden sie das Zeitliche segnen, ersetzt durch hübscheres Schuhwerk und bald schon vergessen sein. Die Vergangenheit blieb: Beständig. Präsent. Fordernd.

Denke an Eigen. Denke an deinen Mann. Denke daran, warum du fortgegangen bist. Denke an das Ende.

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Es war leicht gewesen sich an Löwenstein zu gewöhnen. Glockentor, Schuldentor. Steinenbrücke. Zweimal täglich in Sichtweite des Schafottes vorbei, das dieser Tage in einem erbärmlichen Zustand war: Wo sich sonst die schaulustige Menge ergötzte, warteten dieser Tage enttäuschte Raben in der Kälte des nur widerwillig weichenden Winters.
Dass es keine Hinrichtungen gab, hiess nicht, dass die Stadt sicher war - bestenfalls gab es einen Hinweis auf die Motivation der Stadtwächter und die Gewitztheit jenes Volkes, das im Armenviertel die Köpfe ausserhalb der Sichtlinie hielt. 

"Langsamer, bei der Gnade Mithras! Du sollst mich am Leben halten und nicht zu Tode bringen!"

"Gewiss Herr. Und Ihr wisst, was ich davon halte."

Ich bemühte mich gar nicht erst darum den Vorwurf aus dem Tonfall zu verbannen: Diese Besuche noch vor Sonnenaufgang hatten nicht nur etwas Anrüchiges, sondern waren auch unbequem: Der Frühling mochte kommen, aber zu dieser Stunde gehörten die Strassen der Kälte, die ohne Eile Frost auf die Pflastersteine und an die Fenster zeichnete. 
Auf der anderen Seite wunderte es mich nicht, dass Areng nicht fror: Seine Wangen waren nicht etwa wegen der Witterung gerötet, sondern als Tribut an die Anstrengung. Das viele Fett schützte ihn besser als mich mein wollender Wappenrock.

"Da sind wir. Lasst uns kurz verschnaufen, dann kläre ich dich auf."

Natürlich. Verschnauft nur. Rasselt mit dem Atem so laut, als wärt ihr ein sich schüttelnder Kettenhund. Wenn Ihr euch dabei besser fühlt.

Ich hütete mich diesen Gedanken Ausdruck zu verleihen, aber etwas an der beleidigten Miene des Bankers verriet, dass er meinen Blick korrekt gedeutet haben musste. Umso besser. Er wusste genau, wie sehr ich diese Ausflüge missbilligte.

Wieder ein anderes Haus: Dieses hier konnte kaum mehr als ein Dutzend Jahre alt sein: Der Putz war nicht abgedunkelt, die Balken trugen keine Zeichen von Feuer oder Flut, die Fensterbänke waren so gerade, wie es nur bei einem Bau sein konnte, der noch nicht begonnen hatte in den gierigen Untergrund der Stadt einzusinken. Dennoch waren Versäumnisse unübersehbar: Über das steile Dach, hatte die eingesetzte Schneeschmelze einen Weg auf die in den Keller hinabführende Treppe gefunden und die dort liegenden Räumlichkeiten eiskalt überflutet. Im vagen Licht des anbrechenden Morgens war lag der Spiegel des Wassers still und dunkel, nicht einmal vollkommen gefroren - ein kleines Rinnsal bahnte sich durch die Pflastersteine den Weg in Richtung des nahen Kanals.

"Wer wohnt hier?"

"Im Augenblick: Niemand. Es ist eine Investition in die Zukunft, Delahne. Schau es dir an: Mit nur ein wenig Fantasie kannst du die Menschen hier schon ein - und ausgehen sehen. Kinder, auf der Schwelle spielen, der Vater - vielleicht ein Schuhmacher, der sein Geschäft von hier aus betreibt. Ah, ich kann das Leder schon beinahe riechen und bekomme Lust mich selbst hier niederzulassen."

"Ihr passt nicht durch die Türe, Herr Areng."

"Du bist unverbesserlich! Öffne dein Herz ein wenig, Delahne. Kannst du es nicht sehen, nicht spüren? Das Versprechen von Leben wurzelt an diesem Ort."

"Nein. Und es ist kalt. Wenn Ihr fertig seid, können wir wieder gehen."

Dieses Mal schüttelte der Fette den Kopf und schob sich nach vorn. Meine Schätzung, das wurde mir klar, als er sich der Türe näherte, war korrekt gewesen: Er würde in der Tat nicht hindurch passen.

"Noch nicht. Ich habe das hier für dich ausgesucht. Die zwei Jahre sind beinahe um und um ehrlich zu sein, habe ich keinen Schuster hinter diesem Fenster gesehen, sondern dich. Mit einer ganzen Kinderschar."

Zu einer anderen Stunde. An einem anderen Ort. Unter anderen Umständen: Ja, ich hätte mich geschmeichelt fühlen können, aber der letzte Satz wischte all das davon, rief stattdessen die sorgsam gezügelte Flamme von so oft angestoßenem Zorn wach, dass er mehr nach Müdigkeit als nach Wut schmeckte.

"Ich habe meine Meinung dazu klar zum Ausdruck gebracht, Herr Areng. Nein. Ich bin nicht interessiert. Warum versucht Ihr Euer Glück nicht bei einer dieser Frauen, die Euch und Eure stattliche Gestalt aus der Ferne bewundern und alles für eine nähere Bekanntschaft mit Euch geben würden?"

"Ich habe Ansprüche, Delahne. Mein Herz gibt sich nicht mit der Erstbesten zufrieden."

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte: Die ehrliche Überzeugung in dem feisten Gesicht war beinahe genug, um mich an meinen eigenen Erinnerungen zweifeln zu lassen und die Kälte vertrieb die Laune für eine grimmige Antwort. Ich wollte einfach nur zurück in die Wärme, die Füße noch eine Stunde vor dem Kamin betten und ein wenig dösen, bis dann das Tageswerk des Bankers anstand und damit der erneute Gang vor die Türe anstand.

"Ich habe übrigens meine Beziehungen spielen lassen. Wenn du möchtest, ist für dich ein Platz in der Stadtwache frei. Wie es meine Art ist, habe ich dich überschwenglich gelobt und der Hauptmann möchte dich gern kennenlernen. Ein kleiner Rat allerdings: Du solltest dir einen anderen Namen wählen. Eigen ist so weit fort von hier, dass es schon mit einem Dämon zugehen müsste, aber .. man weiss ja nie. Tratsch wandert auf leichten Füßen."

Eine Zeitlang stand ich nur so, lauschte auf die Geräusche der erwachenden Stadt, frierend und unschlüssig, bis mein Blick wieder auf das schwarze Rinnsal fiel.

"Ich weiss etwas."
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Sonnenwende - von Delahne Magreid - 25.09.2016, 14:09
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 26.09.2016, 14:30
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RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 02.03.2018, 20:35
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 18.06.2018, 15:27
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 21.06.2018, 06:15



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