FSK-18 Schlaflos
#1
Kein Geräusch durchdringt den Raum der Nacht
Ein paar Wolken ziehen
Als wollten sie entfliehen
Aus einer Welt, die scheinbar nicht verstummt
In der Gedanken kreisen
Die mich zum Wahnsinn treiben

Schlaflos quäle ich mich durch die Nacht
Schlaflos, was hast du mit mir gemacht


Schlaf ist eine so wichtige, so schöne Tätigkeit, ich hätte mir nie gedacht, ich würde ihn vermissen. Eigentlich habe ich immer gerne geschlafen, besonders nach durchwachten Tagen am Kessel. Bettschwere, so tief und intensiv, dass sie an jedem Knochen zieht, die Welt schwenkt und verzerrt, sodass man von selbst zu Boden fallen möchte, ist wie ein Auftakt zu einem Erlebnis, mit dem nicht einmal der Akt mit einem Mann sich messen kann.
Andererseits dachte ich mir an jenem Tag als die Schatten kamen, dass ich niemals wieder die Augen schließen wollen würde. Der Moment, an dem vom Körper nichts übrig bleibt, als eine kleine, kreischende Stimme im Kopf, zieht sich zu einer Ewigkeit. Die Erinnerung daran lässt mir jetzt noch das Herz klopfen. Ich wollte nie wieder schlafen, aus Furcht davor, nie wieder mit Herrschaft über meine Gliedmaßen aufwachen zu können. Ein Geist in einem fleischernen Gefängnis, für alle Zeiten... nein.
Ich mochte nie Blut. Blutwurst wohl, aber Wunden versetzten mich stets in eine gewisse Panik, und es war auch nicht zu verstecken. Selbst jetzt noch werde ich gerne "Mädchen" gerufen, und das obwohl ich wahrlich aus dem Kindesalter heraus bin. Wie beim Schlaf verhält es sich aber auch mit dem Blut; spiegelverkehrt. Statt das zu tun was ich liebe, nämlich schlafen und träumen, tue ich nun das, was ich mir in keinem Traum ausgemalt hätte: Blut trinken. Mindestens einmal täglich, wie ich feststellen musste, daran führt kein Weg vorbei den ich auch gehen wollen würde.
Mein Haus ist bescheiden, aber nicht ärmlich. Bequem und heimelig, aber nicht verlebt. Was mich zuvor dazu brachte, dort einzuziehen - die herrliche Aussicht nach Osten nämlich - ist nun der Grund, warum ich Vorhänge aufhängen musste. Hätte ich erwähnenswerte Nachbarn, müsste ich mir wohl einen besseren Trick ausdenken, um die Sonne fern zu halten; so habe ich Zeit es mir in Ruhe zu überlegen.
Oh, so viel Zeit. Keine Müdigkeit, kein Schlaf, und keine Finsternis, die meine Augen nicht durchdringen könnten. Keine Gnade für meinen gemarterten Verstand.

Ich beobachte meinen Mann schon seit einigen Stunden dabei, wie er da liegt und selig schläft. Der Anblick treibt meine Laune hinauf und hinunter, einmal will ich mich zu ihm legen und die Augen schließen, hoffe doch noch zu schlafen, und einmal will ich ihn garstig aufwecken, weil er etwas tut das ich nicht tun kann. Es ist eine kleine, feine Form von Wahnsinn in meinem Kopf, und mit jeder Nacht die ich wach verbringe, scheint sie stärker zu werden.
Ich will meine Zähne in die Rundung seines Brustmuskels rammen. Ihn austrinken. Sein Herz unter meiner Zunge ersterben fühlen. Es wäre die gerechte Strafe dafür, mich alleine zu lassen, finde ich. Nicht dass ich es tun werde... die Lektion meines... Vaters? Ist er mein Vater, oder besser, will ich ihn als Verwandtschaft sehen? Wie dem auch sei, die Lektion meines Erschaffers hat mich geprägt. Hunger ist widerlich, schmerzhafter als jede Folter, und nicht einmal wenn die Schatten die Kontrolle übernehmen, lässt mein Verstand sich zum Rückzug verlocken. Ich sah alles. Erlebte alles mit. Konnte nichts tun, während mein erstes Opfer unter meinen verschwitzten Klauen den Tod fand. Es lehrte mich, weder Hunger zu riskieren, noch den Tod meiner Nahrung, so schön das Gefühl von Macht auch sein mag.
Ich werde ihn nicht töten, ich liebe ihn doch. Und er kann unmöglich verstehen, wie es ist. Er wird es nie erleben, nie erfahren.

Müde lausche ich der Dunkelheit
Doch nichts als Schweigen
Wie eine Ewigkeit
Ungeduldig ersehne ich den Tag
Nur um dich zu sehen
Wie wird es weitergehen?

Schlaflos kämpfe ich mich durch die Nacht
Schlaflos, was hab ich nur gemacht

Ich blinzle, gebe seinem Kopf ein letztes Kraulen das ihn zum anregenden Räkeln bringt, dann erhebe ich mich leise aus dem Bett und schleiche mich auf den Speicher hoch. Dort oben habe ich all die Dinge verstaut, die meine Verflossenen hinterließen, oder meine Familie mir vererbt hat. Dort ist auch Kleidung, die ich nie wieder anziehen wollte. Es wäre beschämend, darin gesehen und erkannt zu werden. Aber was, wenn mich niemand erkennt? Nachts sind bekanntlich alle Katzen schwarz. Was habe ich zu verlieren?
Kurz lausche ich an der Luke hinab in die friedliche Nachtruhe meiner Schlafkammer. Vielleicht tut er dort unten im Bett das Gleiche, lauscht meiner schlaflosen Räumerei und wundert sich still. Es spielt keine Rolle. Wer nicht schläft, der muss etwas tun, und ich kann schwer zu früh damit anfangen, den brodelnden Wahnsinn unter Kontrolle zu bekommen.
Das Unterkleid ist weiß, hat hübsche, zarte, gehäkelte Rüschen an den Säumen. Katharina hat es genäht, damals als sie noch meine Nachbarin war. Hat gekichert, als sie es übergab, und mir mit roten Backen zugezwinkert. Es ist sehr fein, der Stoff dünn genug um einen Hauch von Haut darunter zu sehen, gerade noch sittlich genug um nicht von der Wache eingefangen zu werden. Ich trug es nur selten, aber trotzdem kenne ich es wie ein geliebtes Erbstück.
Das Überkleid ist einen Fuß kürzer, fester, gelber Stoff der auch Regen und Wind standhalten könnte, ungewohnt eng um die Taille und straff über den Schultern, für ein Dekolleté gemacht, das ich bei bestem Willen nicht aufbringen kann. Ich stopfe es gerade genug aus, um es natürlich aussehen zu lassen, dann stecke ich mir das Haar hoch und befühle mein Gesicht.
Meiner Mutter habe ich oft genug zugesehen, wenn sie sich das Gesicht bemalte, aber ich selbst habe es nie versucht. Ein Stück Kohle, eine Kirsche und etwas Steinmehl sind meine ersten Versuchsobjekte, aber der Blick in den Spiegel verrät, dass ich mehr wie eine Hafenhure nach durchzechter Nacht aussehe. Ich kräusle die Nase angewidert, drehe und wiege den Kopf während ich mein Spiegelbild betrachte, und beschließe dass es gut so ist. Die Woche ist beinahe um, der Tag des Herren beinahe da, und ein Großteil der Tagelöhner vermutlich betrunken genug, um mich durch den Boden ihres Bierglases als angemessene Schönheit zu sehen. Solange ich also nicht mit diesem Teufelszeug zurecht komme, muss ich eben mit ungewaschenen, stinkenden, verseuchten Säufern vorlieb nehmen.
Ich schnaube mit bitterer Belustigung. Von solchen Männern gibt es soviele, dass ich nie wieder hungern müsste.

Es dauert noch einen Moment, bis ich mich dazu durchringen kann, die Leiter wieder hinab zu pirschen, dieses Mal mit raschelnden Röcken und dem Geruch von verbrannten, staubigen Kirschen in der Nase. Er liegt noch im Bett, und ich kann an seinem Atem nicht abschätzen, ob er schläft oder sich nur schlafend stellt. Ich kann nur hoffen, dass er Verständnis hat. Dass er mir nicht folgt.

Dann stehle ich mich aus dem Haus und wandere hinüber zu den Pieren. Zeige Schenkel. Locke Blicke, locke Männer. Ziehe sie in eine Seitengasse.
Stille meinen Hunger.



(Text: Melotron - Schlaflos)
You and I, we may look the same
But we are very far apart
There's bullet holes where my compassion used to be
and there is violence in my heart
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Schlaflos - von Vertigo - 24.09.2016, 03:01
RE: Schlaflos - von Vertigo - 25.09.2016, 23:28
RE: Schlaflos - von Vertigo - 13.10.2016, 14:13
RE: Schlaflos - von Vertigo - 23.10.2016, 03:43
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RE: Schlaflos - von Vertigo - 09.05.2017, 17:58
RE: Schlaflos - von Bijoux - 04.01.2018, 17:15
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RE: Schlaflos - von Bijoux - 25.03.2019, 18:09



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