FSK-18 Ein Spiel aus Licht und Schatten
#11


'Wenn du das Wesen eines Menschen erkennen willst, gib ihm Macht. Und wenn du das Wesen einer Gesellschaft erkennen willst, sieh dir an wie sie Recht spricht und Ordnung schafft.'
Natürlich kann jugendlicher Übermut mit derart vom Leben geformten Weisheiten nichts anderes anfangen als sie zu ignorieren. So wurde auch mir erst sehr viel später bewusst, wieviel Klugheit in den damaligen Worten meines Oheims Berengar ruhte. Aber diese Besonnenheit fehlte mir damals noch. Sie fehlte mir auch an jenem Abend, an dem ich vor dem majestätischen Portal der Kathedrale zu Löwenstein einsame Wacht hielt.

»Mithras flammender Segen, Anwärterin!« Ich hatte nicht bemerkt, wie Hochwürden Schumann neben mich getreten war, während ich gedankenverloren auf den Marktplatz hinab gestarrt hatte.

»Mithras zur höchsten Ehr, Hochwürden!« Beeilte ich mich zu erwidern, während ich in wohl gehüteter Nervosität möglichst unauffällig an mir herab schielte. Bereits kleine Nachlässigkeiten konnten zu einem Stimmungsumschwung des Ordensmeisters führen.

»Ist heute nicht die Gerichtsverhandlung?« Fragte er in entspanntem Plauderton. Meine Erscheinung und mein Gebaren mussten wohl annehmbar genug gewesen sein, um ihn nicht zu erzürnen.

»Ich kann es nicht sagen, ich bezog erst vor kurzem Posten hier. Doch ist es auffällig ruhig heute.«

»Verstehe. Nun so begleitet mich. Gnaden Teran sollte dort sein und es wäre doch schändlich, wenn die Legion nicht nach ihrem Wohlbefinden schauen würde, oder?« Eine rhetorische Frage, denn er hatte bereits begonnen die Stufen hinab zu steigen, ehe ich ihm antworten konnte. Eilig schnallte ich den Schild auf den Rücken und folgte ihm in gebührendem Abstand hinab zum Marktplatz.
Gnaden Teran hatte ich in meiner noch kurzen Zeit in der Kirche als eine der eifrigsten Priesterinnen kennengelernt. Und als eine der rätselhaftesten. So emsig sie sich tagtäglich im Dienst an Gott, Glaube und Kirche erwies, so schwermütig erschien sie mir stets. Als ob grosse Bürden auf ihren Schultern lasten würden. Und sie schien mir mitunter merkwürdig isoliert. Umso neugieriger war ich daher, zu erfahren, was sie bei einem Anlass wie einer Gerichtsverhandlung suchte.

Der Sitz der Verwaltung Löwensteins fand sich als selbstbewusst aufragender Bau aus rotem Backstein am südlichen Ende des Marktes. In direkter Nachbarschaft zur Kathedrale. Besagte Gerichtsverhandlung musste lange vor dem Antritt meiner Wache begonnen haben, denn ich hatte keinen das Gebäude betreten sehen. Erst als der Ordensmeister die Türen zum Gerichtssaal öffnete, quoll daraus die unverwechselbare Melange aus Stimmen und Gerüchen hervor, die von einer Ansammlung von Menschen kündete, die schon etwas zu lange in einem etwas zu schlecht gelüfteten Saal ausgeharrt haben mussten.

Wir schoben uns langsam durch das Gemurmel, Gestikulieren, Rascheln und Husten, während ich über das facettenreiche Antlitz von Löwensteins Gesellschaft blickte: Ich sah die vordersten Sitzreihen mit edelstem Prunk besetzt. Einer Pracht, die mit jeder weiteren Sitzreihe abnahm. Bis man ganz hinten - natürlich stehend - nur noch die pragmatische Schlichtheit der Kleidung der niederen Stände ausmachen konnte. Manche der Träger waren in verschwörerisches Tuscheln vertieft, andere unterstrichen mit raumgreifenden Gesten Worte von offenbar dramatischer Tragweite, während anderswo unbeschwert gelacht wurde. Viele bekannte Gesichter sah ich nicht. Natürlich nicht. Löwenstein war für mich damals noch immer eine fremde und rätselhafte Welt. Nur die Vogtin fiel mir auf, die in ihrer üblichen, unaufgeregten Eleganz vor dem Richterpult Platz genommen hatte. Das Richterpult selber war verwaist. Nur der Platz daneben war besetzt. Besetzt von einem filigranen Kunstwerk aus Schleifchen, Geschmeide, Federn, toupiertem Haar und überreich mit Rüschen besetzten Wogen aus Satin. Diese Wolke aus exquisitem Schillern wurde von einer Frau getragen, die mit strenger Missbilligung jeden einzelnen der Anwesenden musterte, während sie mit sorgsamst manikürten Fingernägelchen auf der derb gefertigten Tischplatte trippelte. Dort auf dem Platz des Gerichtsschreibers sah dieses merkwürdige Wesen so verblüffend deplatziert aus, dass ich sie vermutlich eine Weile fassungslos und mit offenem Mund angestarrt haben musste.

»Mithras Segen, edler Baron.« Erst die Stimme des Ordensmeisters liess mich mein fassungsloses Starren von dieser Frau gewordenen Metapher opulenten Zierrats nehmen. Ich blickte zu ihm und erkannte vor ihm den grauhaarigen Adligen mit der unverblümten Wortwahl, den ich einige Tage zuvor in der Altstadt Löwensteins gesehen hatte, als ich ihre Seligkeit begleitet hatte. Er trug den gleichen nachtblauen Wappenrock und den gleichen missbilligenden Gesichtsausdruck. In angemessenem Schweigen und höflicher Zurückhaltung entbot auch ich ihm meinen Gruss - was erwartungs- und standesgemäss übersehen wurde - ehe ich Hochwürden folgte. Ob dieser grauhaarige, griesgrämige Baron auch lachen konnte? Vermutlich nicht.

»Mithras Segen, edle Vogtin.« Die Würdenträgerin Löwensteins sass unweit des grauhaarigen Barons.

»Mithras Segen, Hochwürden. Schön, dass ihr Zeit gefunden habt.« Sie schenkte ihm ein perfekt inszeniertes Lächeln höflicher Verbindlichkeit.

»Natürlich, ich muss doch nachschauen, ob es dem Klerus gut geht.« Bei seiner Antwort sah ich mich unwillkürlich um. In diesem Meer an Gesichtern fehlte eines. Jenes, weswegen wir hergekommen waren: Gnaden Teran. Wo war sie? »Lief die Verhandlung gut?« Fügte Hochwürden Schumann an und sah abwartend zu der Edlen.

Die Vogtin Löwensteins gönnte sich ein Mienenspiel der Missbilligung. Eine ihrer seltenen Gefühlsregungen. »Eine Farce. Man fragt sich, warum der Baron nicht einfach mit einer Ohrfeige geantwortet hat, statt einen Prozess wegen Adelsbeleidigung zu fordern.« Bei der Verhandlung schien es also um eine Anklage wegen ungebührlichen Verhaltens gegenüber einem Adligen zu gehen. Der griesgrämigen Miene nach zu schliessen war der Adlige, von dem die Rede war, vermutlich jener grauhaarige Baron, dem wir eben begegnet waren. »Allerdings ist Mandres frech. Er hat die Beleidigungen hier wiederholt.« Mit einer unauffälligen Geste deutete sie zu einem hochgewachsenen, schwarzhaarigen Mann, der gefesselt beim Richterpult stand und mit stechend grünen Augen aufmüpfig und trotzig in die Menge schaute. Das musste der Angeklagte sein. »Er schadet Garion damit. Und das passt mir nicht.« Die Vogtin richtete ihren Blick auf einen elegant gekleideten, dunkelhaarigen Fremden, der in der Nähe sass.

»Das ist eben Mandres.« Antwortete der Ordensmeister leichthin.

»Ja, das ist eben Mandres.« Echote die Vogtin mit leiser Resignation in der Stimme. »Aber was soll ihm schon passieren. Vermutlich nur eine Geldstrafe, mehr wird ohnehin nicht geschehen.« Etwas in ihren Worten liess mich aufhorchen. Der Angeklagte war offensichtlich ein Freier, der mehrfach und unter Zeugen einen Adligen beleidigt hatte. So griesgrämig dieser Baron mit der unverblümten Wortwahl auch sein mochte, ein derartiges Gebaren durfte nicht geduldet werden. Sollte der Angeklagte mit einer einfachen Geldstrafe - noch dazu scheinbar zum wiederholten Male - damit davon kommen, dann könnte ich die Resignation in der Stimme der Vogtin verstehen. Das wäre dann eine merkwürdig gleichgültige Strafe für ein wiederholtes Verhöhnen der Standesregeln.

Der Ordensmeister wollte eben zu einer Antwort anheben, als sich neben ihm eine Tür öffnete und eine hagere Gestalt im roten Habit der Mithraskirche in den Saal trat. Gnaden Teran. Das Rascheln und Tuscheln im Saal verblasste, als sie auf den Richterstuhl zuging. Das war also der Grund, warum sie hier war. Natürlich, sie war die Richterin! Ich hätte es ahnen müssen. Wer wäre besser geeignet, Recht für Mithras Ordnung zu sprechen, als eine Hüterin eben dieser Ordnung?

Im Saal war Stille eingekehrt, als Gnaden Teran sich setzte und mit einer gewissen Müdigkeit im Antlitz über die Anwesenden blickte. Als sie zum Sprechen anhob war ihre Stimme klar, aber wieder nicht ohne die an ihr immer wieder bemerkbare Schwermut. »Man erhebe sich zur Urteilsverkündung.« Unter leisem Rascheln erhoben sich die Menschen im Saal, gleich welchen Standes sie waren, und es kehrte schliesslich erwartungsvolle Stille ein.

»Im Namen seiner Majestät König Lithas Taguein von Amhran sei verkündet: Der Angeklagte Mandres Daorah wird der Sachbeschädigung am Besitz des Ordens der wachenden Schwerter für nicht schuldig befunden.« Von diesem Orden hatte ich bislang noch nichts gehört und so sah ich mich im Gerichtssaal um, ob dort jemand auffällig auf diesen Freispruch reagierte. Auffällig war nur das griesgrämige Gesicht dieses grauhaarigen Barons. Aber das war wohl sein übliches Mienenspiel. Gnaden Teran fuhr fort und begründete den Freispruch mit der Aussage eines gewissen Telion, die wohl zugunsten des Angeklagten ausgefallen war. Vielleicht war dieser Telion einer der Spiessgesellen von diesem Daorah?
»Der Angeklagte Mandres Daorah wird der nächtlichen Ruhestörung für schuldig befunden.« Ich richtete den Blick wieder auf die Priesterin. Dieser Daorah schien einiges auf dem Kerbholz zu haben. »Der Angeklagte Mandres Daorah wird der mehrfachen Beleidigung eines Adligen für schuldig befunden. Der Angeklagte Mandres Daorah wird des Bruchs der Baronieverordnung von Südwald für schuldig befunden.«
Sachbeschädigung, Ruhestörung, Beleidigung, Verstoss gegen eine Baronieverordnung. Insgeheim zollte ich dem unverändert trotzig dreinblickenden Angeklagten so etwas wie schrägen Respekt. Das war schon eine beachtliche Reihe von Anklagepunkten. Das musste man erstmal fertig bringen. Während Gnaden Teran mit der Urteilsbegründung fortfuhr verfing sich mein Blick an Daorah. Ich fragte mich, wer dieser Mann war, woher er kam, was ihn auf diesen Pfad geführt hatte, welchen Blick er auf die Welt, die Gesellschaft und den Glauben hatte, und was ihn wohl antrieb. Ich hatte schon damals eine wohl gehütete Schwäche für zweifelhafte Charaktere und schwierige Zeitgenossen. Aber als ich damals in diesem Gerichtssaal stand - eine idealistische Anwärterin in den Farben der Sonnenlegion - war ich natürlich noch weit davon entfernt, mir diese Schwäche selber einzugestehen.

»Das hier ist eine Farce!« Im nachdenklichen Blick auf Daorah hatte ich das Geschehen im Gerichtssaal völlig aus den Augen verloren. Erst eine donnernde, weit tragende Stimme die wenig Hehl aus ihrem Unmut machte, riss mich wieder zurück in das Geschehen. Ich richtete den Blick zum Ursprung dieser wortgewaltigen Empörung und erblickte ... den grauhaarigen, griesgrämigen Baron in nachtblauem Wappenrock. Natürlich. Wer sonst.
»Ich verlange, dass Mandres an die Baronie Greifanger überstellt wird, wo Recht über ihn gesprochen wird! Denn hier ist das offenbar nicht möglich!« Mir klappte ungläubig der Mund auf bei diesem unverhohlenen Affront gegen Gericht und Kirche. War diesem Kerl bewusst, dass er hier nicht nur das Gericht verhöhnte, sondern zu allem Übel auch eine Priesterin des Mithras? Wer war hier der grössere Strolch: Der trotzig aber stumm verharrende Angeklagte, oder der offen gegen Recht, Ordnung und Klerus aufbegehrende Adlige? Diesem Baron schien seine Macht zu Kopf gestiegen zu sein. Als ob Macht über Ordnung, Recht und Glaube stünde. Ich starrte fassungslos auf den grauhaarigen Baron, der sich mitten im Saal aufgebaut hatte und nun auf eine merkwürdige und selbstverständliche Art zum Zentrum des Geschehens geworden war. Während ich so dastand und den mit raumgreifenden Gesten deklamierenden Adligen anstarrte, wurden mir zwei Dinge bewusst: Dieser respektlose, aller Manieren beraubte Edle war ebenfalls ein schwieriger Zeitgenosse. Und ich konnte ihn nicht leiden. Beides zusammen ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich neugierig auf diesen ungehobelten Kerl geworden war.

Ja, ich hatte schon immer eine wohl gehütete Schwäche für zweifelhafte Charaktere und schwierige Zeitgenossen: Mandres Daorah, dieser grauhaarige Baron ohne Manieren, Kyron Mendoza, Wulfrik Greiffenwaldt, der Jurenritter Saresh, Marie die Hure, Silas Sommerberg und einige andere noch dazu - ich blicke auf eine ganze Reihe merkwürdiger Charakterköpfe zurück, die mich - natürlich in wohl gehüteter Unauffälligkeit - auf die eine oder andere Weise fasziniert haben. Aber diese beklagenswerte Schwäche hatte ich mir an jenem Abend in diesem Gerichtssaal natürlich noch nicht eingestanden. Die Einsicht über diese Schwäche kam erst sehr viel später. Sie kam an einem Tag, als einer von diesen merkwürdigen Charakterköpfen vor mir kniete und um meine Hand anhielt. Und als ich diesen Antrag annahm.


[Bild: symbol_sonne_mond.png]

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Ein Spiel aus Licht und Schatten - von Eylis - 07.02.2016, 19:31
RE: Ein Spiel aus Licht und Schatten - von Eylis - 05.07.2016, 01:12



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