Die Saat des Irrtums
#33
Der Moment

Versprühn in Freudefunken muß
Ein langes Gramgeschick,
Zu Grunde gehn im Vollgenuß
Von einem Augenblick.

Es prägt kein Leben seine Spur
Der Welt auf ewig ein,
Wir können auf Momente nur
Vollkommen glücklich sein.

Wie leuchtend auch in höchster Pracht
Des Menschen Geist erglüht,
Er zeigt doch nur die tiefe Nacht,
In die er bald versprüht.

~ Hermann Lingg (1820 - 1905)


Jemand hat sich recht große Mühe gegeben, das, was auch immer diese Augen gesehen haben mögen, zu verschleiern. Man könnte sich vorstellen, dass diese Schutzmaßnahmen, deren Ursprung eindeutig dem Abyss zuzuordenen sind, auch über das Sehvermögen des Kindermädchens hinaus gereicht hatten und die pummelige, lebensfrohe Haushaltshilfe vermutlich ohne es zu wissen über Jahre hinweg den Makel der Hexerei mit sich getragen hatte.

Die Bilder und Eindrücke, welche sich auf den toten Pupillen verfestigt hatten, waberten zunächst wie eine milchige Flüssigkeit in einer Glasflasche nur unstet umher und waren schwer zu fassen. Der Bann wirkte wie ein Korken, der jedwede aufkommende, sich klärende Impression eifersüchtig in der Flasche hielt. Doch war jener Pfropfen dank Kyrons Hartnäckigkeit gelöst, fluteten die Eindrücke nur so auf ihn ein. Beinahe schien es, als wollten die Augen - nein, Nora selbst - ihn wissen lassen, dass sie für das, was er erkennen würde, rein gar nichts konnte.

Die auf Kyron einströmenden Bilder aus dem gesamten Leben des unglücklich verblichenen Hausmädchens waren durcheinander und kaum zu fassen. Es war wie ein reißender Strom, der in seinem Strudel alles mit sich zog und verschlang. Alles war im Fluß. Wie schillernde kleine Fische zeigten sich ab und an deutlichere Eindrücke, aber auch diese waren so rasch davon geschwommen wie sie gekommen waren.

Eine Vielzahl an Gesichtern zeigte sich an der Oberfläche des Strudels. Vermutlich Noras Familie, die in ihrem Ausmaß einer galatischen Sippe in nichts nachstand. Ab und an waren die Mienen besorgt und der Blick schien von Tränen verschleiert. Aus einem Wirbel jener stetigen Enttäuschung schälte sich Stück für Stück der Eichenhof hervor. Noch vor dem Umbau, ohne Zäune und Gesindehaus. Kyron konnte Brynja sehen, wie sie von einem krabbelnden, windeltragenden Kleinkind zu einer kecken Range mit den Locken ihrer Mutter im Augenblick einer Welle heranwuchs. Lionel schoß von einem Dreikäsehoch beinahe zu einem jungen Mann empor. Mit der nächsten Flut waren beide wieder klein und alltägliche Begebenheiten, wie ein Spaziergang, Kuchen backen, der wöchentliche Waschtag, Hühnerfedern sammeln, rauschten in einem wirren Kaleidoskop aus Farben vorbei.

Immer wieder tauchte Cahira auf und wirbelte davon. Die braungelockte Frau auf dem Feld, mit den Pferden, mal in Amtsrobe auf dem Sprung, dann wieder nach einer erfolgreichen Jagd in Lederkluft auf der Veranda, auf der Suche nach einem ausgebüxten Schwein und still und in sich gekehrt an einem schlichten Grab … Nein, noch wollten die Augäpfel die Szene, welche Kyron wohl herbei gesehnt hatte und fassen wollte, nicht preisgeben. Wie ein Aal entschlüpfte ihm dieser Eindruck und stattdessen tauchten aus den gedanklichen Wassermassen zwei Gesichter auf.

War es merkwürdig, sich selber in diesem Strudel der Erinnerung zu sehen und vor allem als friedfertiger Familienmensch? Er galoppierte mit seiner kreischenden Tochter auf den Schultern über den Hof und sass Zigarette paffend mit seinem Sohn auf der obersten Sprosse des Zaunes der Pferdekoppel, um den neugierigen Tieren ab und an einen Leckerbissen zu zustecken. Die obersten Schaumkronen dieser Impressionen waren er, gemeinsam mit Cahira, welche leuchtete, strahlte, nur aufgrund und während seiner Anwesenheit.

Aidan.

Kyron mochte den Mann nie getroffen haben, aber die Gestalt, welche sich nun aus dem Malstrom erhob und lächelte, war eindeutig Cahiras Verlobter auf Svesur. Charmant würde den Hexer gut beschreiben, aber der Eindruck, dass, wenn man an seiner goldigen Oberfläche kratzte, darunter nur Pech und Schwefel zu finden waren, war nicht von der Hand zu weisen. Ohne Zweifel die Art Mann, für die Cahira eine Schwäche hatte und über dessen Fehler sie leicht hinweg sehen konnte. Die unverheiratete, von ihrer Familie malträtierte Haushälterin schien ein leichtes Opfer für diesen Galan, der aus ihren innigsten Phantasien entsprungen schien. Die Orte ihrer Treffpunkte variierten. Nie öffentlich, immer verschwiegen: vor Rabenstein, im alten Baronsanwesen, auf einer Wiese im Thalwald.

Mit einem Mal lichtete sich der Strudel und der Blick auf den Eichenhof war klar. Es war früher Abend, Stille lag über dem Land. Niemand war zu sehen, eine Rauchfahne stieg aus dem Schlot des Wohnhauses der Mendozas auf. Schnelle Schritte brachten Nora zur Haustür. In der Wohnküche fiel das Augenmerk auf eine Kanne, welche über dem Ofenfeuer hing, und auf ein halbausgestrunkenes Glas. Nora musste daran gerochen haben, denn der Blick zuckte rasch zur Leiter hinauf, dann kam hektische Bewegung ins Spiel. Im Obergeschoss wand sich Cahira mit schmerzverzerrten Gesicht in bereits blutdurchtränken Laken. Ein kleiner Hoffnungsschimmer zeigte sich auf der Miene der Geplagten, als jene wohl das Kindermädchen erblickte. Kurzer Wortwechsel, dann die bei einer Geburt übliche Betriebsamkeit. Es schien ein harter, zäher Kampf gewesen zu sein, doch letztendlich wurde ein Junge geboren, der rot angelaufen war und schrie und eindeutig gesund und munter in Noras Armen lag. Cahira selber war in Bewusstlosigkeit versackt. Sie hatte viel Blut verloren und sah so blass aus wie die gestärkten Laken, welche die Haushälterin geschickt frisch aufzog.

Das Kind wurde gewaschen, gewickelt, umsorgt - es gab kein Anzeichen dafür, dass irgendetwas mit dem Knaben nicht stimmte. Er hatte einen runden, mit dunklem Flaum bedeckten Kopf, zwei Augen, vier Gliedmaßen und jeweils zehn Finger und Zehen. Er war ganz und gar perfekt. Irgendwann gegen Morgengrauen, als sich die Aufregung der anstrengenden und plötzlichen Niederkunft etwas gelegt und wohl auch Nora geruht hatte, wurde das Neugeborene vorsichtig in einen Korb gelegt. Ein verschlungener Pfad führte das Hausmädchen zu der Lichtung im Thalwald mit dem umgestürzten Baum. Aidan erschien, der Korb wurde zögerlich ausgestauscht, ein Knoten ins Taschentuch gedreht.

Der Blick auf Aidan hatte sich verändert. Aus dem aufregenden Liebhaber war ein besserer Landstreicher in verblichener Kleidung, einer entstellten Gesichtshälfte und blau vernarbten Oberarmen geworben. Nach dem Austausch auf der Lichtung erschien Aidan im Strudel allerdings nicht wieder. Aber auf den ersten Knoten im Taschentuch folgten viele weitere. Das tote Kind aus dem zweiten Korb wurde der erschütterten Cahira in den Arm gelegt, schließlich begraben und betrauert auf dem alten Mondwächterfriedhof.


Der Rest der Eindrücke war wieder konfus und ohne alle Regel oder Reihenfolge. Kyrons verzerrtes Gesicht und wie er die Kinder aus dem Haus schickt, war nicht das letzte Bild, welches sich aus dem versiegenden Strom empor kämpfte.

Es war ein sonniger Tag. Eine karierte Decke und ein paar Köstlichkeiten deuteten auf ein Picknick hin. Brynja und Lionel trollten sich in der Sonne, umwedelt vom Wolfshund Madadh, während Cahira und Kyron lachend die Kinder betrachteten. Cahira drehte sich herum, lächelte, öffnete den Mund um etwas zu sagen … und ein ganzes Leben war zerronnen in diesem einen Augenblick.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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