Die Saat des Irrtums
#30
[Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. ...
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832)

Alles schmerzte.
Kyron sah dem grauen Schemen von Meister Axt hinterher, bis er zwischen den frühlingskahlen Bäumen verschwand. Erst als der verkrampfte Rücken von der Nacht geschluckt wurde, sackte er etwas zusammen und erlaubte sich einen atemlosen Schmerzlaut. Die Dolchstiche wummerten einen spöttischen Takt, während die Prellungen an seiner Seite boshaft gegen seine Lunge drückten, das Atmen erschwerten, und fast mochten die alten Erinnerungen an seine Zeit in der Grenzwache wieder aufblühen. An die Wunden, für die keine Zeit gewesen war. An das Fieber, das ihn auf seinem nächtlichen Wachposten geschüttelt hatte. An den deliriumsgleichen Taumel, in dem er Korndieben nachgestürzt war. Niemand konnte ihm vorwerfen, er hätte jemals seine persönlichen Befindlichkeiten über seine Pflicht gesetzt. Niemand. Immerhin war es das, was Dor'kalon letzten Endes angelockt hatte. Starrsinnige Loyalität, Wahrheit selbst dann, wenn es Kyrons Untergang bedeutete. 
Der Treuste unter deinen Dienern.
Kyron hatte den höchsten Schwur nur einmal gehört, aber einmal hatte ausgereicht. Es waren grausige Worte, zumeist mit einem grotesken Lächeln rezitiert, von einem Menschen, der dem Tod näher gekommen war als er dem Leben jemals sein konnte. Nicht Dor'kalons, dessen Schwur weit vor Kyrons Erscheinen besiegelt worden war, aber es fiel leicht, sich seine Stimme vorzustellen. 
Bis zu jenem Moment hatte Kyron noch jugendlichen Leichtsinn zelebriert. Es alles für ein Spiel gehalten. Für eine Möglichkeit, aufmüpfig und anders zu sein. Doch Belehrung war die grausigste Leere. Nun hallten Dor'kalons Wahrheiten, Worte, Versprechen wieder klar wie Glockenschläge durch Kyrons Kopf, und er stellte mit leisem Schrecken fest, wie wenig all sein Ringen und Kämpfen an seiner Situation geändert hatte. Die Zeit drehte sich im Kreis und fand ihn erneut an dem Flecken vor, an dem er seine Reise begonnen hatte: Alleine auf weiter Flur, in vorauseilendem Gehorsam Probleme lösend, die noch nicht ganz auf die Welt gekommen waren. Schmerzerfüllt. Verwundet. Missgestimmt und unruhig. Ziellos.

Die Abmachung mit Axt lag wie ein klebriger Verband auf seinen Sorgen und konnte das leise Wispern in seinem Kopf nicht völlig ersticken. Wenn sich etwas wie Verrat anfühlte, wie Intrige roch und wie Hintergehen klang, dann trafen wohl alle drei Worte darauf zu. Dass Dor'kalon seine Erklärungen mit völliger Gelassenheit hinnahm und ihn am Ende gar lobte, war schlimmer, als es ein Fausthieb gewesen wäre. Brachte seine Entschlossenheit zum Wanken, bis er auf die Knie sacken und um Vergebung betteln wollte, nur um dieses Gefühl loszuwerden. Es kratzte an seinem Geist wie ein rauher Wollüberwurf, mehr und mehr und mehr bis er die Faust durch eine Wand rammte, lange als Dorkalon in den nächtlichen Gassen verschwunden war.
Führungslos und auf sich allein gestellt wusste Kyron selbst, wie selbstzerstörerisch und unberechenbar er war. Wie schlecht seine Entscheidungen waren, wie kurzsichtig seine Taten. Ohne Anker warf er sich lachend in den Strudel. Und dennoch war er allein. Alle verschwanden, niemand gab seinem Zorn Form und Leben. Niemand spendete ein Ventil für den Aufruhr in seiner Brust. So zivilisiert, so abgebrüht waren sie, einer wie der andere. Und Kyron selbst blieb nichts, als hilflos unter dem zunehmenden Brodeln in seinem Kopf einzusinken, mehr und mehr.
Das alte Zucken im Wangenmuskel kehrte zurück, während Kyron die blutige Hand in einem Eimer Brunnenwasser kühlte. Ging Dor'kalons kalt taktische Berechnung soweit, dass er diesen Moment vorhergesehen hatte? War es ein Schachzug? Zufall? Nichts als harte Realität, die er nicht akzeptieren wollte? Vielleicht eine Prüfung seiner Ernsthaftigkeit, seiner Vertrauenswürdigkeit. Eine Prüfung, die er nicht bestehen würde, wie er sie in der Vergangenheit nicht bestanden hatte. 
Das Wasser färbte sich pink und trübe, die Knöchel stachen unter der Kälte und die Blutungen erstarben. Kyron beließ die Hand länger als notwendig im Eimer, ließ den Schmerz durch den Aufruhr in seinem Kopf wüten wie Morrigu durch eine Horde Bauern. Erst als die Finger weißlich wurden und jegliches Gefühl aus ihnen gefahren war, zog er sie zurück und rollte den Nacken, sog die urin- und fäulnisschwangere Winterluft tief in seine Lungen. Die Verspannung wollte nicht ganz weichen, aber ein paar der Wirbel gaben nach, sprangen scharf knackend zurück an ihren Platz.
Und die Rage brodelte weiter, gekühlt aber nicht vertrieben. Der Feind von innen würde zurückkehren, früher oder später.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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