Die Saat des Irrtums
#11
Denn wo das Strenge mit dem Zarten,
wo Starkes sich und Mildes paarten,
da gibt es einen guten Klang.
Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
ob sich das Herz zum Herzen findet!
Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang.


Das Lied von der Glocke - Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759 - 1805)

Das Papier auf dem Tisch sah so unschuldig und sauber aus. Es lag da wie ein Neugeborenes, jede Krümmung perfekt, von keinem Knitter und keiner Falte beschädigt. Das blassgelbe Licht der Kerze warf kleine, samtmatte Flecken darauf.
Ein paar der schwarzen, dünnen Zöpfe fielen gegen Kyrons nackten Hals, der winzigen Regung folgend, die seinen Blick solider auf die Schriftrolle lenkte. Mit stummer Desorientierung sah er auf den Arm, der noch halb ausgestreckt in der Luft schwebte. Sein Arm, und daran die Hand, mit der er das Schriftstück gerade noch ausgebreitet gehalten hatte. Isabelles Unterschrift war als letztes vom springenden Papier geschluckt worden. Es hatte sich wie eine aufgeschreckte Jungfer um die in Tinte gebannten Gedanken geschlungen, kaum dass er die Finger angehoben hatte, und nun wo es geschlossen war, da wollte er es nicht noch einmal aufbreiten.
Irgendwo an ihm knirschte Leder gegen Metall. Ein Nagel an seiner Stiefelsohle knirschte gequält hell über den Steinboden. Du solltest die Post des Meisters nicht lesen, schalt sein Verstand, die alte leiernde Stimme in seinem Hinterkopf, und doch, wider besten Wissens, wider der Furcht, er konnte den Blick nicht von dem schönen, sauberen Papier lösen.
Wieder knirschte Metall gegen Leder, dieses Mal aber von seiner Faust. Wann er die Hand dazu geballt hatte, konnte er beim besten Willen nicht sagen, aber er wusste was die Faust wollte. Das Papier zerschmettern, es platt schlagen, darauf spucken. Der böse Gedanke kribbelte wie ein beginnenes Buschfeuer an seinem Nacken, genau da wo die Wirbelsäule in den Schädelknochen überging. Es würde sich so gut anfühlen... Zumindest für einen gloriosen, kurzen Moment.
Die in Tinte gebannten Worte tanzten vor seinen Augäpfeln ihren lachenden Walpurgisnachtstanz, wie Schatten im Kerzenlicht auf all dem schönen, sauberen, gerollten Papier, und mit einem leisen Kehlklicken wandte Kyron den Blick ab, bevor der Drang zur Zerstörung zu groß wurde. Der Raum war leer, zumindest von Menschen. Der Tisch, der Teppich, die sauber aufgeschichteten Steine, der Lehm, die Kohlebecken, die Betten, die Lagerkisten, alles wie sonst. Nur keiner da. Keiner außer ihm, und dem Papier mit Isabelles Worten. Nicht an ihn, nein, an den Meister. Fühlte sich so Eifersucht an?
Kyrons Fingerspitzen begannen zu pulsieren, aber selbst jetzt kostete es ihn einiges an Konzentration, den erdrosselnden Griff seiner Finger um sich selbst zu lösen. Was zuerst gepocht hatte, das begann zu kribbeln und zu stechen, als das Blut seine gewohnten Bahnen wieder fließen konnte.
Der Meister hatte es absichtlich liegen lassen, dort auf dem Tisch. Er hatte Isabelles Brief dort hingelegt, wo Kyron ihn nicht übersehen können würde, nicht übersehen wollen würde. War es ein Test? Spott? Eine Lehre?
Unter die Buchstaben mischten sich Gedanken. Cahira, der Baron, der Baron und Cahira, Shin und Sam, Sam und Shin, der Meister, die Legion, alles schloss sich dem wirren Tanz von Licht und Schatten und unverständlichen Emotionen an, bis Kyron mit einem milden Schwanken zurück stolperte, eine Hand ins Gesicht presste.
Vielleicht war es nur Hüttenkoller. Es war Zeit, die Grube zu verlassen. Und sei es nur, um etwas zu töten. Oder jemanden.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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