Die Saat des Irrtums
#8
In meinem Leben gab es böse Jahre –
Wie jene aus der Bibel waren's sieben –
Da hat mich ein Verhängniß umgetrieben,
Ich wandelte – und lag doch auf der Bahre.

Nicht ein Erinnern, das ich voll bewahre
Aus jener Zeit, wo, ohne Frucht geblieben,
Mein Geist in ödem Denken sich zerrieben,
Und Gram und Sorge bleichten meine Haare!

Gleich schwerem Traum zerfloß ihr dunkles Walten,
Und auf vernarbte Wunden kann ich zeigen,
Kaum wissend mehr, von wem ich sie erhalten.

Nur manchmal, einzeln und in wirrem Reigen,
Auftauchen schattenhafte Mahngestalten:
Männer und Frau'n, die wie aus Gräbern steigen.


Böse Jahre - Ferdinand von Saar (1833 - 1906)

Narben waren es, die seine Absichten zunichte machten. Hätte Kyron einen Dolch gehabt, Kyrthon hätte bei seiner Rückkehr nichts als einen sich höhnend selbst verlachenden, stetig auskühlenden Kadaver gefunden. Mit einer Glasscherbe jedoch war es schier unmöglich, Schnitte durch das Narbengeflecht zu führen. Sein rechter Unterarm sah aus wie ein Stück Sonntagsbraten, das der Hund zu zerkauen versucht hatte, blutete auch, aber nicht genug um ihm das Leben aus dem Körper zu ziehen.
Der Schnitt auf seiner Brust blutete ebenfalls ab und an, aber der Schmerz war.. anders. Den Arm hatte er sich selbst zerschnitten, unfähig wie er war, aber den Schnitt auf der Brust, den hatte der Meister ihm verpasst, und das im Zorn. Kyron hatte Dureth noch niemals seine Haltung verlieren sehen, noch nie. Bis auf den Moment, wo Kyron ihm erklärt hatte, warum er wirklich sterben wollte.
Erzählt hatte, was er beinahe getan hätte.
Wer hätte gedacht, dass es die Lichtbringer selbst sein würden, welche die Vernichtung der Synode verhinderten, noch bevor sie wirkliche Macht erreicht hatte? Ein Lachen kitzelte in seiner Kehle, wie es am Vorabend schon passiert war. Es war einfach zu köstlich, zu ironisch, zu witzig, um sich nicht vor Lachen auf den Boden zu erbrechen. Aber Kyron hatte den Wutausbruch mit der Angst verbracht, für diese eine, verzweifelte Tat nun auch aus der Synode verstoßen zu werden, ob sie erfolgreich gewesen war oder nicht. Wenn das passierte, dann hatte er gar nichts mehr, wie damals, als er mehr tot als lebendig in Löwensteins Gosse gelegen hatte, und versucht hatte, sich das madige Hirn mit blindmachendem Fusel aus dem Kopf zu ätzen. Es war keine schöne Angst gewesen, keine lehrreiche Furcht, nur die lähmende, brustverengende Panik vor dem absoluten Nichts.
Dass seine Tat in einer Lebensspanne niemals wieder gut zu machen sein würde, das brauchte Dureth gar nicht erst auszusprechen, und er tat es auch nicht. Er ließ Kyron die Hoffnung, er könne seine Irrwege wieder gut machen, irgendwann, eines Tages, wenn er sich nur genug anstrengte. Es war wie das Stück Fleisch auf dem Metzgerhaken, das stets außerhalb der Reichweite des Fleischerhundes hing, und doch dessen einziger Trauminhalt war.
Nicht anders als der Hund es tun würde, klammerte auch Kyron sich an diese Hoffnung, nahm die Geste an, den kleinen Lichtblick, dass er zumindest nicht beide Heime verloren hatte, und schlich mit der proverbialen eingezogenen Rute durch die Zuflucht, um seines Meisters Weisung zu erfüllen: Er fing die Ratten.
Es war nicht das erste Mal, dass Kyron trotz seiner Angst vor Ratten den Biestern nachstellte, aber es war das erste Mal, dass er sie nicht mit dem Maximum an Gewalt und dem Minimum an Kontakt um die Ecke brachte. Sie lebend einzufangen war ein wenig so, wie glühendes Metall mit bloßen Händen anzufassen, und die erste Stunde entkamen ihm die blutkrustigen Biester einfach nur deshalb, weil er statt zuzupacken mit Schnappatmung zurück stolperte und im Krabbengang flüchtete.
Mit dem Ticken und Tröpfeln der Zeit kam allerdings auch die Furcht vor dem Versagen wieder, und das ziehende Brennen des Schnitts an seiner Brust war es letztendlich, das ihn nach dem dutzendsten Versuch auch zupacken ließ. Flugs landete die Ratte im Topf, in den er nur zur Sicherheit auch ein Stück Brot gelegt hatte, in weiser Voraussicht darauf, dass das Monster irgendwann seine Haut wieder berühren würde, und dann besser nicht mehr hungrig war. Wie bei allen Höllen er am Ende dieser Tortur sich auf den Tisch legen und still dulden sollte, dass der Meister ihm die Biester wieder auf den Bauch setzte, konnte er nicht beantworten. Stattdessen verdrängte er den Gedanken, wohl wissend, dass er besser einen Schritt nach dem anderen erledigte, und somit wenigstens 'etwas' vorweisen können würde, statt einmal mehr bitterlich zu versagen.
Die zweite Ratte hätte einfacher zu fangen sein sollen als die erste, aber manche Dinge schienen mit Wiederholung nur schwerer zu werden. Ratten gehörten zu diesen Dingen. Als er das klebrige, quiekende, beißende Tier endlich in den Klauen hatte und in den Topf werfen wollte, entkam die erste Ratte beinahe, und Kyron musste einige lange, schreckliche Momente mit panikweiten Augen, Schweißausbrüchen und vor Angst heftig zuckenden Händen darum ringen, beide Wesen an ihren Platz zurück zu bringen.
Die Vollendung der Aufgabe hatte etwas von dem Nachbeben einer großen Schlacht, und er saß für einige Momente mit ruhiger werdendem Puls und geschlossenen Augen an der Wand gegenüber des dämonischen Topfes, und sehnte sich nach Tabak und einem Schwefelholz. Der Tabakrauch hätte ihn nicht nur beruhigt, er hätte auch den Geruch von ungewaschenem Schmerz und Angst verdrängt. Wenn man sich selbst zu riechen begann, dann war der hygienische Zustand ein Beklagenswerter.
Der hygienische Zustand seines Geistes war jedoch schlimmer. Ein dreckiger Körper konnte nur einen Raum verpesten, ein dreckiger Geist hingegen verölte alles was er berührte.
Er sollte sich die Haare schneiden. Sie waren zu lang, er fand keine Freude daran sie zu waschen, zu kämmen, zu tragen; sie verdeckten das Zeichen seines Meisters, sie verfingen sich in allem von Waffen über Rüstungen bis hin zu Kleidung und Nahrung. Er hatte seine leere Hülle vernachlässigt, weil er sich so auf seinen Geist verlassen hatte, dass alles andere nebensächlich geworden war.
Wenn er sich die Haare schnitt, wenn er sich tatsächlich darum kümmern musste, wie er aussah, dann würden Hülle und Inneres wieder ins Gleichgewicht geraten. Er wusste nur nicht, wie er den Meister um Erlaubnis fragen sollte, immerhin war es mehr oder minder ein Gefallen. Gefallen waren etwas, das Kyron wohl kaum fordern konnte, oder wollte. Er wollte nichts fordern, und nichts erbitten, und das erste Mal seit Langem musste er Geduld und Unsicherheit in Kauf nehmen, statt selbst entscheiden zu können was passierte.
Die schwindende Panik ließ seinen Körper wieder abkühlen, wie es schon die Tage zuvor passiert war. Die Aufträge, die Dureth ihm hinterlassen hatte, mussten erfüllt werden, bevor dieser wieder zurück kehrte, und das bedeutete, dass sein Herumlungern ein Ende finden musste. So unschön die Dinge auch waren, die da kommen mochten, der Gedanke all seine Eide umsonst gebrochen zu haben war eine schlimmere Last. Nicht offenkundiger, aber schlimmer, weil schleichend und permanent. Ratten konnte man entgehen, bis auf die kurzen Eklipsen, in denen Dureth ihn in deren Gesellschaft zwang, oder die Momente, wenn er ihnen auf der Straße begegnete, aber einem Eidbruch und damit sich selbst konnte man nicht so einfach ausweichen.
Zeit, sein Werk zu vollenden.
Den Hinterraum hatte er schon mit Dureths Aufbruch zu reinigen begonnen, auch wenn er ohne einen Eimer Wasser und eine Drahtbürste nichts gegen die Blutflecken unternehmen konnte. So seine Erinnerung ihn nicht trügte, würde der Meister diese mahnenden Zeichen allerdings sowieso behalten wollen, als Warnung an all jene, die seinen guten Willen verspielten. Die Ketten hatte er sorgsam wieder an die Wände gehangen, bis auf eine einzelne, die bereits sein Blut trug.
Diese eine Kette schleppte er mit sich zurück in den Hauptraum, hielt sie sicher über den Arm gelegt während er auf den Tisch kroch, und drapierte sie wie eine Gebetsschärpe quer über seine Brust, sobald er sich flach auf die Holzfläche gelegt hatte. Mit einem flachen Atemzug schloss er die Augen und versuchte das Scharren und Quieken der Ratten im Topf neben sich auszublenden.
Warten. Warten war die schlimmste Folter.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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