Die Saat des Irrtums
#7
Oftmals habe ich nachts im Bette
Schon gegrübelt hin und her,
Was es denn geschadet hätte,
Wenn mein Ich ein andrer wär.

Höhnisch raunten meine Zweifel
Mir die tolle Antwort zu:
Nichts geschadet, dummer Teufel,
Denn der andre wärest du!

Hilflos wälzt ich mich im Bette
Und entrang mir dies Gedicht,
Rasselnd mit der Sklavenkette,
Die kein Denker je zerbricht.


Der Gefangene - Frank Wedekind (1864 - 1918)

Das erste Ziel seiner Wut war das Salz, diese hassenswerte, höhnische Spirale um seine Knie. Er ohrfeigte sie, wie er gerne andere Leute geohrfeigt hätte, schlug in das Salz sodass es davon stieb wie Wasser unter den Hufen seines Pferdes, bis kein Korn mehr da lag wo es liegen sollte. Seine Ohren prickelten unter den spitzen Zornschreien die er von sich gab, aber sein Herz, das wollte glatt vor Genuss zerspringen. Es waren Jahre vergangen, seit er sich das letzte Mal so gehen hatte lassen, sich so gehen hatte lassen können, und der schlichte Akt füllte seine Adern mit pulsierendem Feuer.
Hier war niemand den er verletzen konnte, niemand um dessen Wohl er sich sorgen musste, niemand, dessen Anblick ihm stechende Schuldgefühle in die Brust schicken konnte, niemand dem er sich später erklären musste, nichts Zartes, nichts Fragiles, nichts Einzigartiges oder Unersätzliches. Er war ersetzbar, das sicher. Dureth? Ebenfalls. Er hatte es selbst gesagt, verging er, würde ein anderer ihm folgen, und verging Kyron, würde ein anderer seinen Platz einnehmen, ohne im Schritt zu schwanken. Starben sie, so würden ihre Namen verwischt sein und die Welt sich weiterdrehen. So entsetzlich sinnlos.
Das Salz war zerstört, also trat er das glimmende Kohlebecken um, packte es an seinen gusseisernen Standbeinen und schlug es ragebrüllend gegen die Wand, bis die klagenden Gongschläge des Metalls seine Schreie überdeckten. Wen würden seine Kumpanen betrauern? Nicht sein wahres Selbst, nein, diese überkandidelte Form von ihm, in die sie ihn erhoben hatten. Der loyale, der immerwachende, der kampferprobte Leutnant, Kamerad, Vorgesetzte, Ehemann, Vater, Bruder, der nach dem Licht gestrebt war, nach Ehre, den würden sie betrauern. Ein Phantom das es niemals wirklich gegeben hatte, einen Traum den er für sie gesponnen hatte.
Seine Muskeln schrien unter den Vibrationen, der Wucht, dem Kraftaufwand den er seinem Körper abverlangte, und erst als ein morscher Brocken Sandsteins sich aus der gekerbten Wand löste und seine Finger das eiserne Gestell nicht mehr halten wollten, da ließ er den Brazier fallen.
Stattdessen verpasste er dem Sitz, den der Meister zuvor eingenommen hatte, einen so ungezügelten Tritt, dass das Holzgestell berstend und splitternd gegen die Kante des Durchgangs zum Hauptraum krachte, und in armseligen Bruchstücken zwischen den Türrahmen liegen blieb.
Sie hatten ihn zum Lügner gemacht. Wie lachhaft es war, dass er erst vor kurzem überlegt hatte, das Lügen zu erlernen und Dureth so in seinen eigenen Untergang laufen zu lassen; lachhaft, wo er schon seit so langem zum Lügen verführt worden war, und dann noch dazu sich selbst belogen hatte! Der Lügner der das Lügen erlernen wollte. Sie. Sie alle. Alle Menschen, für die er versucht hatte, nicht er selbst zu sein.
Mit einem angestrengten Grunzen packte er den kleinen Arbeitstisch, warf ihn um, hob ihn auf und wuchtete ihn gegen die nächste Wand, auch wenn seine Kräfte nicht ausreichten, um ein so großes Möbelstück in seine Einzelteile zu zerschlagen, wie er es mit dem Sessel gemacht hatte. Wofür das Alles? Wofür die letzten sechs Jahre? Wofür das Gefängnis, wofür die Reisen, wofür die aussichtslosen Kämpfe? All die Zeit hatte er den Makel des Untergangs mit sich geschleppt wie ein schleimiges, ungeliebtes Erbstück, ihn versteckt und verborgen und all die Fäden ignoriert, die stets und ständig an seinem Verstand gezupft hatten, versucht hatten ihn zu verleiten zu all den Dingen, die der bleiche Lord für die Ebnung seines Weges benötigte. Er hatte so tapfer dagegen angekämpft, so starrsinnig, so verzweifelt, und er hatte es stets verborgen und versteckt, stets gewusst dass niemand es verstehen würde. Und hatte er es nicht versteckt, hatte er um Hilfe gebeten, da hatte er nur Hilfsmittel in die Hand bekommen, wie er sich besser verblenden konnte, wie er sich besser verstecken konnte, wie er sich besser selbst belügen konnte, in der Hoffnung ein "besserer Mensch" zu werden, "das Richtige" zu tun, die "richtige Wahl" zu treffen, dem "hehren Pfad" zu folgen... Es war, wie einem Schatten zu sagen, er möge ins Licht treten.
Cahiras lächelndes Gesicht erschien vor seinem geistigen Auge, und für einen Moment endete sein Wutausbruch, stolperte er zurück bis er gegen eine der Wände prallte. Mit einem halb knurrenden Ächzen presste er die Hände ins Gesicht, grub die Finger in die Haare. Ihr Antlitz war das letzte, das er nun sehen wollte. Es erinnerte ihn daran, was er ihr versprochen hatte. Lügner. Versprechungen, die er niemals halten können würde, Versprechungen, die wie die Spirale aus Salz waren, eine nimmerendende Arbeit ohne Aussicht darauf, jemals erfolgreich beendet werden zu können. Lügner. Und sie hatte es gewusst, er hatte es stets in ihren Augen gesehen, dass sie wusste dass er ihr leere Versprechungen machte, und dass sie dennoch nichts sagte, weil sie genauso hoffte sich zu irren, wie er es stets getan hatte. Lügner.
"Versprich mir, dass du niemals aufhören wirst zu kämpfen," wisperte ihre Stimme durch seinen Verstand, und er sackte tiefer, ignorierte das Schürfen der feuchtkalten Steinwand am nackten Rücken. "Versprich mir, dass du niemals aufgeben wirst," bettelte sie, die haselnussfarbenen Augen groß vor Hoffnung, vor fanatischem Glauben. Ein paar Haare gaben dem krallenden Zug der Finger nach. "Versprich mir, dass du bei uns bleiben wirst," forderte sie, und drückte seinen Sohn an ihre Seite. Ein schrei-heiseres Winseln entkam ihm, während er an die Wand gelehnt zwischen den Holzsplittern, den Kohleresten, den Sandkörnern zum Sitzen kam. "Loyalität bis zum Tod," sprach Kordians Stimme, kurz bevor er sich abwandte und in die Dunkelheit verschwand.
Lügner.
Soviele gebrochene Eide, soviel Leid, soviel Chaos, soviele Lügen, und all das nur damit er einer Entscheidung entkommen konnte, die er freiwillig getroffen hatte? Es war falsch. Profund und grundlegend falsch. All dies war falsch, und all dies war seine Schuld, seine allein. Niemand außer ihm hatte diese Kette an Verstrickungen ausgelöst, und niemand außer ihm hatte sie über Jahre, über soviele unlogische Aufeinanderfolgen von Entscheidungen aufrecht erhalten.
Und immer noch war er nicht bereit, sich der Erkenntnis zu stellen. Immer noch wollte er flüchten und fliehen, all die Schatten hinter sich lassen, sich vorgaukeln dass er nur weit genug fort gehen musste, und der bleiche Lord würde nichts als ein Albtraum werden. Immer noch belog er sich selbst. Lügner. Es war, als könnte er trotz der Erkenntnis nicht aufhören damit, der Spirale weiter zu folgen. Wie eine Tanzmaus, die nur noch im Kreis lief, kurz bevor sie verhungerte.
Irgendwann in seinem Ausbruch hatten sich sinnlose Tränen zu der Rage gesellt, aber nun wischte er sie mit einem angewiderten Kehlen fort. Er würde weiter lügen, weiter verschleiern, weiter flüchten, das sah er nun ein.
Furcht vor dem Tode allerdings hatte er nicht mehr.
Mit einem zittrigen Atemzug, dem ersten Gefühl von seliger Ruhe seit Wochen, nein, Monaten, hob er einen Glassplitter auf, der wie durch göttliche Fügung zwischen den Bruchstücken von Holz lag.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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