Die Saat des Irrtums
#6
Gleich und gleich gesellt sich gern,
Wer du bist, zeigt dein Begleiter;
Aus dem Knecht kennt man den Herrn,
Aus der Fahne ihre Streiter.
Was du billigst, noch so fern,
Ist nach Tagen oder Wochen
Dein, als ob du's selbst gesprochen.


Gleich und gleich - Franz Grillparzer (1791 - 1872)

Kyron wusste nicht, wie oft er eingeschlafen war. Es mussten ein halbes Dutzend oder mehr Schreckmomente über die ganze "Nacht" - war es denn Nacht? - verteilt gewesen sein, in denen er mit einem scharfen Atemzug hoch schrecke, verwirrt und verstört darüber, dass er sich nicht an das Einschlafen erinnern konnte.
Er wusste nur, dass er bei diesem Mal nicht mehr allein mit der Spirale im Raum war. Vielleicht hatte der Meister sich gerade erst gesetzt, und das hatte ihn hochschrecken lassen? Vielleicht saß der Meister aber auch schon eine ganze Weile dort und beobachtete ihn, wie er halb von Sinnen vor sich hin döste.
Seine Reaktion jedenfalls war verwirrend. Kyron war sich sicher, dass Schlaf nicht Teil der erlaubten Tätigkeiten war, und doch verlor der Meister kein Wort darüber, sondern deutete nur auf eine Stelle, die er im Schlaf mit dem Fuß verwischt hatte, und gehieß ihn es zu beheben.
Und wie die Male zuvor zerstörte der Meister das Werk, kaum dass er es vollständig erblickt hatte. Dieses Mal mit einem Laib Brot, den er achtlos gen' Kyron warf, und der prompt all das Salz verwischte. All die Spuren, die Kyron in stundenlanger Arbeit gerichtet hatte, waren einmal mehr vernichtet, all die Arbeit umsonst, all die Arbeit...
Der Gedanke daran, wie er am Ende der 'Sitzung' wieder den Auftrag bekommen würde, das Salz zu richten, ließ eine bleierne Müdigkeit in ihm aufsteigen. Wie oft noch? Wieviel Mühe noch? Würde sich dieses Spiel gar bis ans Ende seiner Tage wiederholen? Für den Rest seines Lebens, Nacht für Nacht - oder Tag für Tag? - Salz in Formen zu wischen, während er langsam dahin siechte, erschien ihm wie eine schlimmere Demütigung als alles, was er sich sonst ausmalen mochte. Aber noch hegte er einen Kern von Hoffnung. Noch glaubte er daran, dass der Meister Einsehen haben würde, wenn er nur wieder und wieder bewies, dass er bereit dazu war, diese stupide Arbeit zu erledigen. Er würde sicherlich irgendwann Einsehen haben, oder nicht?
Der Meister reichte ihm einen Becher Wasser zu dem Brot, hieß ihn essen und trinken, und trampelte dabei an einer anderen Stelle durch das Salz. Wo er am Vortag panische Angst vor einem falschen Lidschlag gehabt hatte, da spürte Kyron dieses Mal hilflose Wut in sich aufsteigen, eine Wut die er irgendwie besänftigen musste, und wenn es auf Kosten seiner Gesundheit ging. So zumindest argumentierte Kyrons hysterischer Verstand, als der Meister ihn fragte, ob er noch mehr zu trinken wollte, und alles was Kyrons Geist beherrschte der Gedanke daran war, dass mehr Wasser auch mehr Zerstörung am Salz bedeuten würde. Dass die Ablehnung des Trunks ihm in der Tat nicht nur mehr Wasser, sondern auch keine weiteren Vandalenaktionen einbrachte, das verblüffte ihn.
"Wofür steht der Bleiche Lord?" fragte der Meister schließlich, und sorgte mit diesen wenigen Worten dafür, dass Kyrons Magen sich um die wenigen Brotbrocken krampfte, die er inzwischen herunter würgen hatte können.
Sein Kopf, zuvor gefüllt mit so vielen Sorgen und Ärgernissen, war schlagartig wie leer gefegt.
Gähnende, andauernde Leere. Zweimal öffnete und schloss Kyron den Mund, unfähig einen Laut zu produzieren, unfähig die vielen Worte nachzuplappern, die er vor Jahren erlernt hatte. Sie waren fort gewischt von der Müdigkeit und der eintönigen Arbeit, und der Angst. Fortgewischt, weil sie niemals in seinem Herzen geruht hatten. Oder hatten sie? Vor Jahren, ja, damals, da hatte er sie geglaubt, all die Worte und all die Floskeln, aber dann hatte sich ihm ein anderer Weg geboten, und er war diesem nur zu gern gefolgt, weil er zu Frau und Freunden, und später auch zu Kind geführt hatte.
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, während er wie ein Fisch auf dem Trockenen zwischen Brot und Wasser kniete.
"Wofür steht der Bleiche Lord?" fragte der Meister erneut, eindringlicher, aber immer noch ruhig und unausweichlich. Kein Weg würde an einer Antwort auf diese Frage vorbei führen, keine rettende Ablenkung in diesen Tiefen dazwischen fahren. Wie kleine Tröpfelchen von Morgentau rieselten die alten Worte wieder in seinen Kopf, die möglichen Dinge, die der Meister erzählt haben könnte, die Floskeln, die er gehört haben könnte, aber er war sich nicht sicher, einfach nicht sicher. Und er wusste, dass der Meister es merken würde, wenn er nun schlammige Ausflüchte von sich gab. Der Meister musste es einfach merken.
Da war jedoch eine Wahrheit, die er von sich geben konnte. "Ich weiß es nicht, Meister," sprach er mit schwankender Stimme, halb angespannt in der Erwartung einer Strafe.
Die kam jedoch nicht.
"Und wie wolltest du dann die Akolythen unterrichten?"
Eine gute Frage. Wie, in der Tat? Glücklicherweise war dies eine einfachere Frage, denn die Antwort darauf hatte er sich schon überlegt, als er das erste Mal davon gehört hatte, dass es wohl ihm zufallen würde, die Neulinge zu unterrichten. "Ich hätte wiederholt was du sagtest, Meister."
Das jedoch schien dem Meister nicht zu genügen. Die nächsten Momente verbrachte er damit, Kyron zu erklären wieso ein stumpfes Wiederholen nicht ausreichte, und obschon Kyron es nicht offen zugab, so waren die Erklärungen doch einleuchtend, und nichts Neues. Er hatte all das gewusst, gewusst dass er keine wahre Überzeugung hatte, gewusst dass er gegen ein Schicksal ankämpfte, dem er nicht entgehen konnte, gewusst dass die alten Götter ihm schon lange nicht mehr zuhörten, alles gewusst.
Er hatte es nur ignoriert. Für seine Frau. Für die Klinge. Für seinen Sohn. Ein bisschen auch für Kordian. Kordian würde ungemein enttäuscht sein, wenn er wiederkam. Wenn er nicht tot war. Vermutlich war er tot, oder zuckte nur die Schulter wenn er dann doch zurück kehrte, schrieb es Kyrons unverbesserlichem Wesen zu, erklärte es zu einer alten Leier.
Ein Funke von Wut erblickte das Unlicht der Welt und setzte sich in Kyrons Brust fest.
Alle taten sie so, als wäre es nur Kyrons fehlendem Willen zuzuschreiben, dass er sich mit diesen Kultisten eingelassen hatte. Als sei er einfach nur zu schwach, um sich von ihnen zu lösen. Als könnte er, wenn er wollte, als sei es freier Wille, der ihn hierher getrieben hatte, als müsse er sich nur genug anstrengen, dann wäre er frei. Als sei es eine ärgerliche, kleine Sache, mit der er ihnen auf die Nerven fiel. Als sei alles was er erlebt hatte, erlebte, nur ein Zeitvertreib für ihn.
Der Funke wuchs. Der Meister sprach weiter, sanfter nun. "Du kannst dein Leben nicht in einem Traum verbringen, Kyron. Weil hinter den Träumen ungeahnte Schrecken lauern. Das Leben ist kein Traum. Leben bedeutet, dein Schicksal zu erfüllen. Und vor deinem Schicksal kannst du nicht fortlaufen, wo du dich auch versteckst."
All das wusste er. All das hatte er lange kommen sehen, all das waren seine geheimen Befürchtungen gewesen, Wissen das ihn Nachts wach gehalten und Tags zur Flasche getrieben hatte. Alles nur ein Traum, keine Realität, und eher früher als später, so hatte er geahnt, würde der Traum in sich zusammen brechen. Der Punkt war erreicht, und voll mit quiekenden Ratten, und Salz, und Durst, Hunger, Angst und Versagen. Alles nichts was er nicht gewusst hatte, und doch hatte er sich bislang an einen kleinen Hoffnungsschimmer klammern können. "Die Götter kennen mein Schicksal," sprach er, und ließ ungesprochen, wie oft er sich insgeheim gefragt hatte, wann jemand anders als er aussprechen würde, dass die Götter ihn schon lange verlassen hatten. Wie lange er diese falsche Hoffnung mit sich herum getragen hatte, war an Jahren nicht zu zählen, aber nun konnte er vor der Erkenntnis um die Falschheit nicht mehr zurück scheuen.
"Deine Seele gehört dem Bleichen Lord. Du kannst ihnen huldigen, ihnen die ganze Welt als Opfer darbringen... Doch sie hören dich nicht, denn dein Schicksal liegt in anderen Händen." Der Meister sprach die Worte gelassen und sachlich, mit dieser grausigen Sicherheit, die sonst kein Mensch in sich zu finden schien. "Verleugnest du das, wirst du wenn du stirbst alles verlieren, das dir jemals lieb und teuer war und sein wird."
Genauso gut hätte Dureth einen Daumen in seine Augenhöhle bohren können, der Schmerz wäre wohl kaum anders gewesen. Wann war Kyron zu einem Lügner geworden? Es musste schleichend passiert sein, aber sich selbst zu belügen war genauso verwerflich, wie andere Menschen zu belügen. Seine Mutter hatte zeitlebens gelogen, sein Bastard von Vater hatte sich einen Spaß daraus gemacht, Lügen zu spinnen und zu füttern, und sich in seiner Wahrheit zu baden, und selbst seine Liebe war ihm von Lügen genommen worden, aber er selbst hatte sich stets damit gerühmt, niemals zu lügen.
Die Wut in seiner Brust loderte auf und schlug ein ehernes Band um sein Herz. Er konnte sich gerade noch so beherrschen, mehr aufgrund der Ratten im anderen Raum, als vor Ehrfurcht, aber er schaffte es, musste es schaffen, musste nur noch ein bisschen durchhalten-
Der Meister erhob sich und wies mehr mit dem Blick als mit der Hand auf die verwischte Spirale. "Ich denke, du hast etwas in Ordnung zu bringen."

Das eherne Band aus gerade so beherrschter Wut zersprang. Die Welt verschwand zwischen lodernder Rage.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Die Saat des Irrtums - von Kyron Mendoza - 23.07.2015, 16:45
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RE: Die Saat des Irrtums - von Cahira Mendoza - 23.03.2020, 20:56



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