Die Saat des Irrtums
#4
Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.

Ich möchte sterben. Laß mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen.


Stimme eines jungen Bruders - Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

Die Sandkörner staken wie hungrige Schnecken an Kyrons verschwitzten Fingern, und bissen in die stetig über den Stein streichende Haut seiner Fingerkuppen. Leises, beständiges Schaben begleitete jeden vorsichtigen Strich seiner Hand über den klammfeuchten Steinboden, ab und an ersterbend wenn er den Handrücken hob um allzu garstige Schweißtropfen von der Stirn zu wischen, bevor sie in die Tiefe fallen konnten.
Das Blut war starrsinnig nicht in seinen Kopf zurück gekehrt und beließ ihn entrückt und an der Kippe zur Ohnmacht, nur um sich dafür umso vehementer in den Adern seiner Arme und Beine zu sammeln, und den schleichenden Beugeschmerz dort noch zu verschlimmern. Wäre die Situation irgendwie anders gewesen, Kyron hätte die Aufgabe mit dem ersten Tropfen seines Blutes in die Salzspirale für verloren erklärt und aufgegeben. In diesem Fall jedoch hatte er endgültig eingesehen, dass die Konsequenzen einer Aufgabe etwas waren, was er nicht am eigenen Leibe herausfinden wollte.
Schlimm genug, dass er in fast völliger Finsternis eines Kellers winzige Körnchen finden sollte, wo er schon Mühe hatte, die Zehen seiner nackten Füße zu identifizieren - nein, sein Peiniger saß einen Raum weiter, und schien keine Pläne zu haben, seinen Warteplatz aufzugeben.
Der Gedanke an Kyrthon Dureth trieb ihm beklemmende, bodenlose Enge die Brust hinauf, trieb ein der kopflosen Panik nicht unähnliches Gefühl von unmittelbarer Lebensgefahr durch seine Glieder, und mit einem Schaudern und einem Kopfschütteln vertrieb er den Gedanken. Nur um die Augen zu schließen als der Anblick des Meisters sich prompt wieder in seinem Kopf einnistete, und ihm den Atem abschnürte.
Wie erstaunlich gut er die letzten Wochen geschlafen hatte, wurde ihm erst jetzt bewusst, wo der Schlaf fern blieb. Es mussten drei, vielleicht vier, vielleicht mehr Stunden vergangen sein, seit er mit dem Reparieren des aus Salzkörnern gestreuten Musters auf dem Boden angefangen hatte, und doch fand die Tätigkeit kein Ende, konnte er die Spirale nicht zu jener Perfektion zurück sortieren, die sie zu Anfang gehabt hatte. Mit zunehmender Müdigkeit begann er zunehmend neue Unschönheiten in das Muster zu streichen, und verlängerte die Arbeit somit auf eigene Faust in die Unendlichkeit. Nur sein Herz, das pochte schmerzhaft hart und unerbittlich in seiner Furcht weiter gegen seine Rippen, pumpte adrenalingeflutetes Blut in seine erschöpften Venen.
Wie gerne hätte er nun geschlafen, wie gerne nur einen Moment Pause gemacht, nur für einen Augenblick die Lider geschlossen und sich der Schwärze hingegeben... Aber jeder Herzschlag war heilig, jede Pause entfernte ihn weiter von dem einen Ziel das er um jeden Preis erreichen musste, wenn er jemals wieder von hier fort gehen können wollte.
Es war ein ewiger Kreislauf, der in einer ganz dem Salzmuster ähnlichen Spirale in den Abgrund führte. Müdigkeit, Schmerz, davon fließende Zeit, nichts davon würde sich bessern, alle drei Schlingen um seinen Hals würden sich nur enger ziehen, und doch war er nicht gewillt, aufzugeben.
Nicht gewillt, eine Aufgabe abzubrechen, die er niemals erfüllen können würde.

'Hätte Cois mir das Schwert in die Brust gerammt, wäre ich nun frei', teilte sein Kopf ihm mit und ließ ihn scharf ausatmen. Der eine Windstoß trieb ein paar Salzkörner endgültig aus seiner Reichweite, und für einen Moment quoll kaum zu beherrschende Wut in ihm hoch, und ließ ihn einen frustrierten, langgezogenen und durchdringenden Schrei von sich geben, der erst abriss als er sich die rechte Hand ins Gesicht presste. Unter dem Gewicht der Finger sank sein Kopf in den Nacken, und einige der längeren, unfrisierten Strähnen verfingen sich in den Ringen des Kettenhosensaums. Das Rupfen der ausgerissenen Haare konnte gegenüber dem pochenden Schmerz in seinen abgewinkelten Knien kaum einen Funken von Aufmerksamkeit erwecken.
Kyron fragte sich nicht, wieso Dureth ihm eine unlösbare Aufgabe gestellt hatte, die Frage war völlig überflüssig. Allgemein waren Wortbeiträge seinerseits nicht mehr nötig, das hatte sein Häscher überaus deutlich gemacht, und es ging auch nicht darum, ein hübsches Muster wiederherzustellen; es ging um exakt das, was Dureth von ihm gefordert hatte. Die Bereitschaft, das zu tun was ihm gesagt wurde, egal was er davon hielt.
Früher waren solcherlei Dinge ihm leicht gefallen, er hatte sie regelrecht begrüßt. Nicht denken zu müssen war eine wundervolle Freiheit gewesen. Nicht denken zu müssen war allerdings etwas, das er sich nun nicht mehr leisten konnte, wollte, und gerade das machte die Situation zwischen ihm und Dureth so schwierig. Er hatte Cois nicht angreifen können, weil Kordian nicht da war um "seine Leute", Kyrons Leute, vor den Konsequenzen zu schützen. Cahira war zwar für die Öffentlichkeit die Anführerin eines Regiments, aber sie hatte nie die notwendige Härte und Kälte besessen, um unangenehme Entscheidungen zu fällen. Nein, sie war stets die Politikerin der Klinge gewesen, die Diplomatin. Und Cois tat, was man ihm befahl, wachte wie ein Perpetuum Mobile über alle, die unter seinen Schutz fielen, kümmerte sich sonst aber nicht sonderlich um die größeren Zusammenhänge.
Nein, es gab nur einen, der als Ersatz für Kordian in Frage kam, und das war Kyron selbst. Wie wahr dieser Fakt war, hatte er erst an diesem Abend erlebt. Wäre er nicht von Dureths Tun abgelenkt worden, er hätte die Situation sicherlich anders geregelt, aber ein Hund konnte nicht auf zwei Pfiffe hören, und Kyron konnte nicht auf zwei Fronten gehen. Der erste und einzige Versuch das zu tun hatte ihn in diesen Keller geführt, in diese Spirale aus Salz gesetzt.
Kordians Schuld. Sein Hiersein, Cahiras Kommando wider Willen, all das war Kordians Schuld. Kordian, der mit seiner Frau durchgebrannt war und sie alle im Loch sitzen hatte lassen, das er zuvor für sie geschaufelt hatte. Wenn er denn mit seiner Frau durchgebrannt war. Was, wenn er nur irgendwo festgehalten wurde, und wartete dass die Klinge ihn da rausholte? Was, wenn er schon lange tot war?

Was wenn er tot ist?

Dann war Kyron alleine mit dem Salz, der Spirale, den brennenden Fingern, den stechenden Knien, dem flatternden, panischen, gefangenen Herzen, und seinem Häscher, der einen Raum weiter in völliger Stille saß und lauschte, und lauerte.

Es war der letzte Gedanke, an den Kyron sich bewusst erinnerte. Der Rest der Nacht war ein verschwommener Schemen aus Salz, Schaben, panischem Atem, und am Ende einem paar Stiefeln, die am Rande des Salzmusters erschienen um sein Urteil zu fällen.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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